Vergiftungskrimi im Spionage-Milieu
Von Stefan Schocher
Ein Sonntagsspaziergang hätte es werden sollen. Einer, bei dem Vater und Tochter noch einen Happen in einem italienischen Restaurant im Stadtzentrum zu sich nahmen. Der Spaziergang endete auf einer Parkbank im Zentrum der kleinen südenglischen Stadt Salisbury, wo beide zusammensackten. Zwei Tage später befindet sich Salisbury im Ausnahmezustand. In dem italienischen Restaurant, wo die beiden zuletzt aßen, suchen Sonderermittler in Schutzanzügen nach Spuren – ebenso wie an anderen Orten der Stadt. Und das Spital von Salisbury gab die Nachricht aus, man möge nur im äußersten Notfall kommen und im Idealfall andere Einrichtungen aufsuchen.
Äußerst brisanter Fall
Seit Sonntag werden dort Sergei Skripal (66) und seiner Tochter Julia (33) behandelt. Der Zustand der beiden ist kritisch. Von einer möglichen Vergiftung ist die Rede. Womit, ist unbekannt. Die Brisanz des Falles ergibt sich durch die Biografie Sergei Skripals. Denn da eröffnen sich Parallelen zu einem ganz ähnlichen Fall: Dem im Jahr 2006 in London mit radioaktivem Poloniom 10 vergifteten ehemaligen russischen Agenten Alexander Litwinenko.
Auch Skripal hat eine Geschichte in russischen Nachrichtendiensten. 2010 war er unter jenen insgesamt 14 Personen, die die USA und Russland im größten Agentenaustausch seit dem Ende des Kalten Krieges in Wien austauschten (siehe unten).
Agententausch in Wien
Skripal war sechs Jahre zuvor als Doppelagent aufgeflogen. Er soll als Oberst des Militärgeheimdienstes GRU über Jahre Identitäten russischer Agenten im Westen an britische Nachrichtendienste verkauft haben. Der Schaden für russische Dienste wird als gigantisch beschrieben. 2006 wurde er dafür zu 13 Jahren Haft verurteilt. Er kam 2010 in Wien frei.
Seither lebt er im verschlafenen Salisbury anscheinend ein beschauliches, wenig glamouröses, aber durchaus gediegenes Leben abseits der Öffentlichkeit. Er besitzt ein kleines Reihenhaus und einen BMW, ging aber meistens zu Fuß, wie Nachbarn sagen. Zunächst lebte er in dem Haus mit seiner Frau und seiner Tochter. 2011 starb seine Frau. Die Tochter ist zwar noch in Salisbury gemeldet, lebt aber offenbar zumindest zum Teil wieder in Russland. In Salisbury war sie diesmal anscheinend nur, um ihren Vater zu besuchen.
Die Ermittler in dem Fall halten sich bedeckt. Weder eine Vergiftung ist bestätigt noch ein Vorsatz – und schon gar nicht, ob es sich um ein Verbrechen handle. Die Rede ist aber von einem "schwerwiegenden Vorfall". Die Öffentlichkeit wurde ersucht, bei Vergiftungssymptomen Alarm zu schlagen. So sollen auch zwei Polizisten, die mit dem Fall betraut waren, wegen Symptomen behandelt worden sein. Britischen Medien zufolge wird derzeit eine Vergiftung mit dem synthetischen Opiat Fentanyl (ein starkes Narkosemittel) vermutet.
Ex-MI6-Mann ermittelt
Spekulationen drängen sich auf. Die Parallelen zum Fall Litwinenko liegen auf der Hand. Und britischen Medien zufolge wollen die Behörden auch einen Mann zu den Ermittlungen hinzuziehen, der diese Hauptthese bestätigt: Christopher Steele, jenen Ex-MI6-Mann, der die Ermittlungen im Fall Litwinenko leitete, und sich später als Sicherheitsberater selbstständig machte. Zuletzt erlangte er Bekanntheit als jener Mann, der das Dossier über US-Präsident Trump verfasste, in dem von Sex-Orgien Trumps in Moskau und von engen geschäftlichen Verstrickungen des Trump-Clans mit Kreml-Getreuen die Rede ist.
Verräter vernichtenAuf seinen Recherchen im Fall Litwinenko fußt auch jene britische Untersuchung, die nach fast einem Jahrzehnt zu dem Schluss kam, dass zwei Männer mit engem Bezug zum FSB (Inlandsgeheimdienst Russlands) für den Mord verantwortlich seien. Beide leben unbehelligt in Russland. Sehr wahrscheinlich sei zudem, dass der Kreml über die Tat informiert gewesen sei. Notiz am Rande: Einer der Verdächtigen, der inzwischen als Parlamentarier tätig ist, wurde 2015 von Putin für Verdienste um das russische Parlament geehrte.
Der Kreml weist jede Verwicklung zu Litwinenkos Tod zurück. So auch im aktuellen Fall. Kreml-Sprecher Peskow bot London Unterstützung an. Russische Medien sprechen sogar vom Versuch, die russische Führung so knapp vor den Präsidentenwahl am 18. März zu diskreditieren.
Putin hat seine Meinung über abtrünnige Spione mehrmals kund getan: "So etwas wie einen ehemaligen KGB-Mann gibt es nicht", sagte er einmal. Und auch: "Ein Verräter muss vernichtet werden."
Als im Jahr 2010 so nach und nach bekannt wurde, was die US-Behörden da aufgedeckt hatten, fiel so manchem hartgesottenen Geheimdienstkenner die Kinnlade hinunter. Von einem möglichen Ausmaß der Spionage war da die Rede, das die Zeit des Kalten Krieges unter Umständen noch übersteige. Elf Personen waren es, die nach intensiven Ermittlungen des FBI ursprünglich festgenommen wurden. Darunter solche, bei denen sich der Verdacht erhärtete, dass sie bereits in den frühen 90er-Jahren, als Paare getarnt, von russischen Diensten in den USA angesiedelt worden waren. Als Gesicht des Rings kristallisiert sich Anna Chapman heraus, die in Großbritannien studiert hatte und erst 2009 in die USA ging.
Jedoch: Ein großer politischer Theaterdonner blieb aus. Der Kreml sprach von Festnahmen ohne Grundlage. Dann Stille. Und dann plötzlich ein Austausch: Aus den USA und aus Moskau kommend landeten am 9. Juli 2010 in Wien zwei Jets. An Bord der aus den USA kommenden Maschine: Zehn russische Spione. An Bord des aus Moskau kommenden Jets: Vier Männer – Sergei Skripal, Alexander Zaporozhsky und Igor Sutyagin (Letztere sollen für die USA spioniert haben) sowie Gennady Wasilenko, dessen Rolle unbekannt ist. Die vier verschwanden im Westen.
Die heimgeholten Russen wurden hingegen wie Helden gefeiert, Putin sang mit ihnen vor jubelnden Massen patriotische Lieder. Vor allem Anna Chapman machte Karriere – wenn auch eine, die in Teilen der russischen Gesellschaft eher Häme als Bewunderung erntete. So hatte sie eine TV-Show, die zum Teil offen belächelt wurde, schrieb eine Kolumne in der Komsomolskaja Prawda, die ihr Plagiatsvorwürfe eintrug, und machte zuletzt Versuche, eine eigene Modelinie auf den Weg zu bringen – für die sie vor allem selbst modelt.