Islamisten suchen Kämpfer in Österreich
Es gibt laut Verfassungsschutz auch unter den in Österreich lebenden Tschetschenen „tickende Zeitbomben“, wie die vermutlich selbst-radikalisierten Attentäter von Boston. Dennoch warnt das Innenministerium vor einem „Generalverdacht“ gegen die 26.000 hier ansässigen Tschetschenen.
Im Verfassungsschutzbericht 2012 wird die Situation der tschetschenischen Community zusammengefasst: „In Österreich besteht eine der größten Exilgemeinden von Tschetschenen in Europa. Nur ein geringer Teil von ihnen unterstützt bzw. sympathisiert mit dem tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow, der versucht, die tschetschenischen Exilgemeinden in seinem Sinne zu beeinflussen bzw. deren Mitglieder zu einer Rückkehr nach Tschetschenien zu bewegen.“
Dabei bedient sich Kadyrow eingeschleuster Agenten, die als Asylanten getarnt die tschetschenische Gemeinde unterwandern. Diese Agenten versuchen, mit Einschüchterungen und Drohungen die Diaspora zur Rückkehr nach Tschetschenien zu bewegen. Auch die Angehörigen der Flüchtlinge in Tschetschenien werden unter Druck gesetzt. Spätestens seit dem Mord an Umar Israilow im Jahr 2009 werden die Kadyrow-Agenten von den Behörden als sehr hohes Sicherheitsrisiko eingestuft.
Islamisten
Gewalttaten, die in Österreich von Tschetschenen ausgeführt werden, haben meist familiären Hintergrund. Auch die erkannten politischen Aktivitäten werden vom Verfassungsschutz als innere Angelegenheiten der Tschetschenen eingestuft.
Der Verfassungsschutzbericht hat noch weitgehende Gültigkeit. Brisanz bekommt die Situation aber durch eine ganz neue Aktualisierung, die noch nicht veröffentlicht wurde. Diese Aktualisierung wurde erst vor wenigen Wochen – kurz vor dem Attentat in Boston – erstellt. Da heißt es: „Aufgrund von aktuellen Ermittlungen ist jedoch bekannt, dass in Österreich lebende Tschetschenen die Auseinandersetzungen im Kaukasus bzw. den globalen Dschihad der El Kaida aktiv unterstützen bzw. teilweise auch aktiv daran teilnehmen.“ Gemeint ist unter anderem ein tschetschenischer Flüchtling, der im Juni 2011 am Flughafen Wien festgenommen wurde, weil er mit seiner jungen Ehefrau in ein Terrorcamp reisen wollte.
Selbstradikalisierungen per Internet sind keine tschetschenische Besonderheit. Die Tschetschenen sind aber laut Polizei besser abgeschottet als andere Gemeinschaften. In der Analyse heißt es: „Fälle der Selbstradikalisierung sind innerhalb dieser Gemeinschaft schwerer festzustellen als in anderen Gemeinschaften, da das Vertrauen zur Polizei sehr gering ist und daraus auch eine mehr als geringe Bereitschaft zur Zusammenarbeit besteht.“
Karl-Heinz Grundböck vom Innenministerium warnt vor einem „Generalverdacht“ gegen die Tschetschenen, weil es sich bei den Verdächtigen nur um einen sehr kleinen Personenkreis handle. Grundböck bestätigt aber den Verdacht gegen mutmaßliche Dschihad-Krieger in Österreich: „Die gibt es, und wir dürfen natürlich nicht so naiv sein anzunehmen, dass von den wenigen erkannten Personen keine Gefahr ausgehen kann.“
Es war die auffällig gestiegene Zahl von Vermisstenanzeigen, die die niederländischen Sicherheitsbehörden aufschreckte: Ungewöhnlich viele Jugendliche zwischen 15 und 20 Jahren, allesamt aus einem Elternhaus mit muslimischen Hintergrund, waren in den vergangenen Monaten von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden. Als einige von ihnen Wochen später doch wieder daheim auftauchten, sah sich die Polizei in ihrem Verdacht bestätigt: Viele von ihnen hatten sich auf den Weg gemacht, um in Syrien auf Seiten radikaler Rebellen gegen Diktator Bashar al-Assad zu kämpfen.
Mindestens 500 Europäer hätten sich den Kämpfen in Syrien bereits angeschlossen, warnte gestern erneut der Antiterrorismuskoordinator der EU, Gilles de Kerchove: „Wir beobachten derzeit einen regelrechten Strom in das Kriegsgebiet.“ Wobei viele der angereisten europäischen jungen Männer weniger in den Reihen der „Freien Syrischen Armee“, als eher in der extrem islamistischen Al-Nusra-Front landen.
Wachsender Zulauf
Der EU-Anti-Terrorexperte, aber auch sämtliche europäischen Sicherheitsbehörden sehen den wachsenden Zulauf europäischer „Freizeit-Dschihadisten“ in Syrien mit Sorge. „Wie wir schon jetzt gesehen haben, stellen manche dieser Leute, wenn sie zurückkommen, eine ernsthafte Bedrohung dar“, warnte De Kerchove gegenüber der BBC. „Wenn sie abreisen, sind nicht alle radikal. Aber wenn sie einmal dort sind, werden fast alle von ihnen radikalisiert – und im Kämpfen ausgebildet.“
Auch im österreichischen Innenministerium beobachtet man die Entwicklung. Es seien wohl Kontakte von „Personen aus Österreich“ zu syrischen Bürgerkriegsparteien festgestellt worden, heißt es aus dem Innenministerium – aber noch keine direkte Beteiligung an Kampfhandlungen.
Zurück daheim könnte sich die gefährliche Mischung aus Kampferfahrung und religiösem Extremismus gegen die europäischen Staaten richten. Das Risiko von Terrorangriffen steige erheblich, schrieb De Kerchove im März in einem geheimen Bericht. Die größte Bedrohung sieht der Anti-Terror-Chef der EU dabei in der Gefahr von Angriffen durch Einzeltäter.
Krönungsfeier
In den Niederlanden, wo an die hundert junge Männer in Richtung Syrien abgereist sind, hat man bereits reagiert. Aus Sorge vor den heimkehrenden „Dschihad-Touristen“ wurde im März die Terrorwarnstufe auf das Level „erheblich“ erhöht. Und dort wird sie auch bis nach den Krönungsfeierlichkeiten für Prinz Willem-Alexander kommende Woche bleiben.
Dass sich so viele junge, muslimische Europäer den Kämpfen in Syrien anschließen, hat nach Meinung der Sicherheitsexperten mit der gezielten Anwerbestrategie radikaler Islamisten zu tun. „Jedem Muslim möchte ich sagen: Ihr sollt Dschihad machen. Nach Syrien fliegen! Und warum machst du das nicht?“ heißt es in einem im Internet kursierenden Video. Erst in der Vorwoche wurde in Belgien eine Gruppe Islamisten verhaftet, die junge Männer für Syrien anwerben wollten.