Chronik/Welt

Missbrauch in Schule: Staat muss zahlen

Mit acht Jahren ist Louise O’Keeffe von ihrem Grundschul-Direktor mehrmals sexuell missbraucht worden. Mehr als 40 Jahre später bekam die nunmehr 50-jährige Irin rechtliche Genugtuung: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat den irischen Staat zur Zahlung von Schmerzensgeld verpflichtet. Ein richtungsweisender Spruch des 17-köpfigen Richtergremiums in Straßburg, der möglicherweise auch in Österreich Auswirkungen haben wird.

Aufarbeitung

Mit der Republik Irland wurde just jenes Land vom EGMR verurteilt, das als erstes in Europa die Aufarbeitung des in den vergangenen Jahrzehnten vorwiegend in katholischen Einrichtungen begangenen sexuellen Missbrauchs von Kindern minutiös aufgearbeitet hat.

Sexueller Missbrauch war in Irland in vielen Erziehungsanstalten und Schulen offenbar über Jahrzehnte gang und gäbe, wie zahlreiche Studien mittlerweile bestätigen. Eine von der Republik Irland eingesetzte Kommission kam nach zehnjährigen Ermittlungen im Jahr 2009 zum Schluss, dass der sexuelle Missbrauch von Buben geradezu ein Merkmal katholischer Arbeitsschulen gewesen sei. Mehr als 800 Priester, Mönche, Nonnen und Laienmitarbeiter sind des sexuellen Missbrauchs beschuldigt worden.

Keine Konsequenzen

Ein solcher Laienmitarbeiter war auch Leo Hickey, vom Staat Irland beschäftigter Direktor einer von der katholischen Kirche geführten Grundschule in Dunderrow. Bereits 1971 waren dem Schul-Management Meldungen über sexuellen Missbrauch durch Hickey bekannt geworden. Es gab keinerlei Konsequenzen. 1973 wurde schließlich die achtjährige Louise O’Keeffe Opfer ihres Schuldirektors. Rund 20 Mal soll Hickey über sie hergefallen sein. Im selben Jahr melden weitere Eltern ähnliche Vorfälle. Der Direktor geht in Krankenstand. Schließlich wird er an eine andere Schule versetzt, an der er bis 1995 unterrichtet. Weder die Schulbehörden, noch die Polizei werden verständigt.

Ermittlungen

Erst Mitte der 1990er-Jahre wird das volle Ausmaß des Missbrauchs durch Hickey öffentlich bekannt. Die Polizei beginnt nach neuerlichen Vorwürfen, seine Zeit in Dunderrow betreffend, erstmals zu ermitteln. Dem ehemaligen Schuldirektor wurde 386-facher sexueller Missbrauch von 21 Schülerinnen nachgewiesen. 1998 wird Hickey schuldig gesprochen und zu drei Jahren Haft verurteilt.

Zahlung bis zum Lebensende

Eines seiner Opfer, Louise O’Keeffe, kämpfte um Schadenersatz. Eine Entschädigungsstelle für Missbrauchsopfer sprach ihr rund 54.000 Euro zu. Die Frau zog aber auch gegen ihren Peiniger vor Gericht und forderte 300.000 Euro Schmerzensgeld. Man fand einen Kompromiss: Ex-Schuldirektor Hickey muss der Frau bis zu seinem Lebensende 400 Euro pro Monat zahlen. Laut EGMR sind das bislang rund 31.000 Euro.

Doch O’Keeffe gab sich damit nicht zufrieden. Sie wollte, dass der Staat Verantwortung für die Taten seiner Beamten übernimmt. Bis zum irischen Höchstgericht kämpfte sie sich durch – ohne Erfolg. Die Gerichte wiesen im Wesentlichen ihre Anschuldigungen zurück.

Folter oder erniedrigende Strafe

Schließlich zog die Irin 2012 vor den EGMR, dessen Entscheidung seit kurzem vorliegt. Das Urteil beruft sich vorwiegend auf die Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Unter anderem auf den Artikel 3 der MRK : „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“ Im Artikel 13, auf den sich der Spruch der Richter ebenfalls bezieht, heißt es: „Sind die in der vorliegenden Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten verletzt worden, so hat der Verletzte das Recht, eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz einzulegen, selbst wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben.“

Schmerzensgeld

Der Gerichtshof sieht also, dass der Staat Irland für gesetzeswidrige Handlungen seiner Beamten zur Rechenschaft gezogen werden kann. Laut dem Urteil muss der Staat Irland 30.000 Euro Schmerzensgeld an Louise O’Keeffe zahlen. Außerdem müssen ihr 85.000 Euro an Gerichtskosten ersetzt werden. „Das ist ein großer Tag für die Kinder von Irland“, sagte die siegreiche Frau nach der Urteilsverkündung.