Chronik/Welt

Lynchjustiz an einem Roma-Angehörigen

Die französische Öffentlichkeit ist aufgewühlt. Präsident François Hollande empörte sich in einem Kommuniqé über eine "unbeschreibliche Tat". Aber die barbarische Misshandlung eines 16-jährigen Rom, vermutlich durch Jugendliche aus einer Sozialsiedlung in der Kleinstadt Pierrefitte im Pariser Einzugsgebiet, ist vor allem eine Tragödie der Armut. Wie erst am Dienstag bekannt wurde, war der Halbwüchsige bewusstlos, mit Wunden übersät und mit verdrehten Gliedmaßen in einem Supermarkt-Einkaufswagerl am Rande einer Schnellstraße in der Nacht auf Samstag gefunden worden. Seine Überlebenschancen sind ungewiss.

In der Nähe des Fundorts befindet sich ein verfallenes Gebäude, rund um das sich in den letzten Wochen etwa 200 Roma-Migranten aus Rumänien in behelfsmäßig errichteten Schlafstätten etabliert hatten.

Wie auch erst am Dienstag bekannt wurde, waren alle Insassen dieses Notlagers auch schon Freitag geflüchtet. Ausgelöst wurde die Flucht durch zwei Dutzend Personen, die vermummt in das Lager eingedrungen und den 16-Jährigen entführt hatten. Angehörige des Opfers erhielten später einen Anruf über das Handy des Entführten, in dem Lösegeld verlangt wurde.

Bei den Entführern dürfte es sich um junge Männer aus einer nahen Sozialbau-Siedlung handeln. Der entführte Halbwüchsige, der mehrfach wegen Diebstählen festgenommen worden war, dürfte in der Siedlung Einbrüche verübt haben. Seine Familie, die kaum Französisch spricht und mit den Behörden ursprünglich keinen Kontakt unterhielt, glaubte, der Entführte sei bereits tot und irrte nach ihrer Flucht während des gesamten Wochenendes durch den Pariser Großraum.

Es ist nicht das erste Mal, dass in Frankreich eine Lagerstätte von Roma-Migranten durch arabisch- und afrikanisch-stämmige Jugendliche aus der Nachbarschaft angegriffen wird. Zuvor hatten schon in Marseille Einwohner von Sozialbauten eine Hüttensiedlung von Roma zerstört und diese vertrieben.

Frankreichs Behörden gehen mit Roma-Migranten vergleichsweise tolerant um. Namentlich linke Stadtverwaltungen haben ihnen provisorische Unterkünfte in Containerdörfern und Jobmöglichkeiten verschafft. Aber die angespannte Arbeitsmarktlage, der extreme Mangel an Sozialwohnungen in den französischen Metropolen und die Überschuldung gerade der ärmeren Kommunen beschränkt deren Aufnahmefähigkeit. Deswegen entstehen auf Brachen immer wieder illegale Lager ohne sanitäre Einrichtungen und mit offenen Feuerstellen. Einige Insassen überleben durch Diebstahl. Spannungen mit der Nachbarschaft, meistens verarmte Sozialbausiedlungen, sind vorprogrammiert, auch wenn manchmal Sozialarbeiter und Solidaritätsinitiativen für eine Verständigung sorgen. Meistens werden diese Lager, wenn sie eine gewisse Dimension überschreiten, von der Polizei geräumt und entstehen dann wieder an einem anderen Ort.

Die meisten Behausungen der Roma-Siedlung am Rande der zentralgriechischen Kleinstadt Farsala gleichen rostenden Schiffscontainern. Draußen toben spielende Kinder, drinnen drängen sich die Erwachsenen mit besorgter Miene um die TV-Geräte. „Im Fernsehen nennen sie uns Roma, aber in der Stadt draußen beschimpfen sie uns als Zigeuner und spucken auf uns“, schildern sie einer Gruppe griechischer Reporter.

Die Roma von Farsala fürchten, dass sie nun noch öfter die Wut und Ablehnung ihrer Umgebung zu spüren bekommen werden, nachdem die kleine, blonde, mittlerweile weltberühmte Maria (siehe unten) aus ihrer Siedlung geholt worden war. „Sie sagen, wir stehlen, wir entführen sogar Kinder. Das ist eine riesige Beleidigung für uns“, schimpfte Farsalas Roma-Führer Babis Dimitriou in die laufenden Kameras. Alle Roma in Griechenland würden jetzt in Sippenhaft genommen, glaubt er, zumindest so lange nicht einwandfrei bewiesen sei, dass Maria nicht entführt wurde.

Roma als Kinderverschlepper – dieses uralte Vorurteil geht absurderweise auf ein Unrecht zurück, das einst den Roma zugefügt wurde. „Unter Kaiserin Maria Theresia wurden den Roma-Familien die Kinder weggenommen, um sie fern von daheim einzuschulen“, schildert Barbara Liegl, Politologin am Ludwig Boltzmann Institut. „Doch die Familien wollten das nicht. Und wenn sie dann kamen, um ihre Kinder wieder heimzuholen, hieß es: Versteckt die Kinder, die Zigeuner kommen.“

Ressentiments

Ein Spruch, der sich über Jahrhunderte hielt. Und nur eine von vielen Stereotypen („faul, heimatlos, kriminell“), die mit der bis zu zwölf Millionen Menschen zählenden und damit größten Minderheit Europas in Verbindung gebracht wird. Diskriminierung und Hass gegenüber den Sinti und Roma fanden ihren Höhepunkt, als die Nazis nahezu eine halbe Million von ihnen ermordeten.

Heute leben die Roma über ganz Europa verteilt, die Mehrheit von ihnen jedoch in Südosteuropa – unter meist elenden Bedingungen. Von Ostrava in Tschechien bis Belgrad, vom slowakischen Kosice bis Bukarest leben Millionen Familien in Slumsiedlungen am Rande der Städte. Müllberge türmen sich, Wasseranschlüsse sind die Ausnahme, bei Regen versinken die ungeteerten Straßen im Schlamm. In Kosice zogen die Stadtväter eine Mauer zur Abgrenzung gegen die Roma hoch. Andere Städte überlassen die Slums mitsamt ihren Bewohnern, ihren Papphütten und halb kaputten Wohnwägen einfach sich selbst. Wer hier lebt, stirbt zehn Jahre früher als der Durchschnittseuropäer. Und hat fast nie Arbeit.

Teufelskreis

Zwischen 80 und 90 Prozent der osteuropäischen Roma sind ohne Job. Wer zudem nie ein Schule besuchte, wie viele erwachsene Roma noch heute, hat kaum Chancen, sich je aus dem Teufelskreis von Armut und Not zu befreien.

In ihrer Not sehen viele im Auswandern ihre einzige Chance – wie die kosovarische Roma-Familie Dibrani. Zusammen mit ihren fünf Kindern ließen sich die Dibranis in Ostfrankreich nieder, schickten ihre Kinder in die Schule und lebten unauffällig – bis Frankreichs Polizei die 15-jährige Leonarda und ihre Familie gegen den Protest Tausender Schüler wieder in den Kosovo abschob.

Tausende Roma, viele von ihnen mittlerweile EU-Bürger, werden jährlich aus westlichen EU-Ländern in ihre alte Heimat zurückgebracht. Mit einer Rückkehrprämie ausgestattet gehen viele auch freiwillig – nur um kurz darauf wiederzukehren.

EU: Aktionsplan

Hier nicht willkommen und dort nicht erwünscht – dieses Schicksal von zwölf Millionen Menschen mitten in Europa hat die EU auf den Plan gerufen. Vor zwei Jahren verabschiedeten die EU-Mitgliedsstaaten für jedes Land einen eigenen nationalen Aktionsplan – doch tief greifende Verbesserungen sind noch lange nicht zu erwarten.

Ungarische Roma dürfen etwa seither nur noch mit staatlicher Hilfe rechnen, wenn sie die auch vom Staat vorgegebene Sozialarbeit leisten – haben damit aber noch lange keinen richtigen Job. Kroatische Roma-Kinder gehen zwar in die Schule, meist aber nur in reine Roma-Klassen – und erhalten dort wiederum nur qualitativ schlechte Ausbildung. Und ein osteuropäischer Regierungschef liebäugelte gar mit der Idee, Roma-Kinder aus ihren Familien zu holen und sie in Internaten zwangseinzuschulen. Erst dessen Roma-Beauftragter winkte ab: Geht gar nicht.

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