In vier Phasen zum Selbstmordattentäter
Es hat weder mit der Religion noch mit dem kulturellen Hintergrund zu tun, wenn ein Mensch sich entschließt, Terrorist zu werden. Alle Terroristen haben das gleiche psychologische Profil, das in vier Phasen abläuft. Das ist das bemerkenswerte Forschungsergebnis des Heeres-Wissenschaftlers Harald Haas vom Institut für Human- und Sozialwissenschaften an der Landesverteidigungsakademie.
Der Psychologe und Politikwissenschafter Haas lebte mehr als ein Jahr in Syrien und weitere sechs Jahre in Gaza. Er sollte die Entstehung eines palästinensischen Staates erforschen. Haas kennt die wesentlichen Politiker, auch die Terrorchefs. Während der Intifada fragte er sich: "Was bringt einen Menschen dazu, sich sehenden Auges von einer Niederlage in die nächste zu stürzen?"
Terror-Biografien
Haas begann, die Lebensgeschichten von 25 palästinensischen Selbstmordattentätern zu erforschen. Unter anderem entwarf er Fragebögen, die er mit den Familien der Attentäter durchging. Diese Fragebögen glich er auch mit jenen von britischen Forscherkollegen ab, die gleichzeitig die Hintergründe der Attentäter der IRA (Irisch-republikanische Armee) im Nordirlandkonflikt erforschten.
Zum Erstaunen der Forscher wiesen alle Täter unabhängig vom islamischen Hintergrund auf der palästinensischen Seite und dem christlichen Hintergrund auf der IRA-Seite die gleiche Biografie auf. Am Anfang stehen frühkindliche, traumatische Erfahrungen. Entweder wurden sie von den Eltern schlecht behandelt oder sie wurden Zeugen, wie die Eltern von Fremden schlecht behandelt oder vielleicht sogar getötet wurden. In der Folge reagieren die Heranwachsenden mit größtmöglicher Anpassung und Selbstverleugnung. Sie sind extrem diszipliniert und gehorsam und meistens gute Schüler.
Sie wollen möglichst unauffällig sein, um nie wieder in eine für sie schwierige Situation zu geraten.
In der späteren Pubertät kommt es noch einmal zu einer großen Enttäuschung oder zu einer Gewalterfahrung. Auf diese schwere, narzisstische Kränkung folgt die Gewaltphase. Haas: "Wenn die Kränkung groß genug ist, bringt er nun auch die Bereitschaft zur Selbstzerstörung mit." Er ist reif für jede Art von Gewalttat und schottet sich immer mehr ab. Viele dieser Menschen leiden unter Depressionen und werden auch behandelt. Wobei aber die verabreichten Antidepressiva die Gewaltbereitschaft erhöhen. In diese Kategorie von Menschen fällt für Haas auch der Münchner Attentäter.
Rekrutierer
Jetzt sind die Kandidaten auch in einer Phase, wo sie meist erfolgreich für eine Gruppe geworben werden können. Religion oder kulturelle Eigenschaften spielten bis zu diesem Zeitpunkt keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Doch genau in diesem Pool von anfälligen Menschen sind die psychologisch geschulten Rekrutierer der Terrororganisationen auf der Suche nach geeigneten Kandidaten. Die findet man überall. In einem Volk in einer normalen Friedenssituation seien bis zu neun Prozent der Jugendlichen aus verschiedenen Gründen traumatisiert. In Krisengebieten steigt der Prozentsatz. Unter palästinensischen Studenten leiden bis zu 60 Prozent an einer posttraumatischen Störung. Unter israelischen Studenten sind es immerhin noch 30 Prozent.
Rekrutierer des IS sind weltweit unterwegs. Sie suchen in Moscheen, in Jugendclubs oder einfach in der Jugendszene im Park. Durch das Internet ist es noch viel leichter geworden, die Botschaften loszuwerden. Mit der erfolgreichen Anwerbung für eine Gruppe beginnt die nächste Phase der Selbstverleugnung. Er ist jetzt endlich Teil einer Gruppe, die "Heldentaten" vollbringt, und ordnet sich dieser total unter. Haas: "Jetzt hat er scheinbar sein Ziel erreicht, er kann endlich ein Mal in seinem Leben ein Held sein." Der Terror-Anwärter empfindet auch keine Verantwortung für ausgeübte Gewalt. Nicht er tötet, sondern die Gruppe tötet. Für die eigentliche Tat gibt es reguläre Ausbildungskurse. In weiterer Folge werden die Kandidaten auch ihren Familien entfremdet. Haas: "Man nimmt ihnen die letzten Bezugspersonen, bis niemand mehr da ist, auf den sich so ein Mensch stützen kann."
Fertige Bombe
Jetzt ist die lebende Bombe fertig, und muss nur mehr auf das Ziel programmiert werden. Dafür kommt nun auch fallweise die Religion ins Spiel. Der Islamische Staat setzt beispielsweise eine pervertierte Auslegung des Koran gegen "Ungläubige" dafür ein. Und bei der IRA wurden nationalistische Motive verwendet.
Den Kampf gegen den IS-Terrorismus und Amokläufer in Europa hält Haas aufgrund der psychischen Profile der Täter für eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die Polizei könne erst einschreiten, wenn es schon fast zu spät ist. Im besten Falle dann, wenn der Attentäter eine illegale Waffe kauft. Die gesellschaftliche Terrorprävention müsse aber schon viel früher ansetzen. Es sei notwendig, das soziale Umfeld zu schärfen. Und zwar dafür, dass Eltern, Freunde oder Kollegen merken, wenn ein Mensch immer sonderbarer wird und sich zunehmend abschottet. Diesen dann einfach als "Sonderling" zu behandeln, und wie im Falle des Münchner Attentäters diesen auch noch während der Tat zu beschimpfen, sei sicher der falsche Weg. Mit diesen Menschen müsse man sich frühzeitig auf geeignete Weise auseinandersetzen. Haas: "Das wäre Terrorprävention im Allgemeinen, da könnte jeder mithelfen."