Chronik/Welt

Ein Jahr nach dem Anschlag in Berlin: "Ein unerträglicher Zustand"

Es riecht nach gebrannten Mandeln, aus den Lautsprechern tönt "Mary's Boy Child" von Boney M., die Händler schenken Glühwein aus, verkaufen Brezeln – fast ein normaler Weihnachtsmarkt. Dennoch ist vieles anders. Zwischen geschmückten Buden und Tannenbäumen stehen Kreuze, Blumen, Kerzen und ein Plakat mit der Aufschrift "Warum?" Immer wieder kommen Besucher vorbei, fotografieren die Stelle. Eine Frau schüttelte den Kopf: "Da bekommt man ja Gänsehaut."

Vor fast einem Jahr fuhr Anis Amri einen LKW in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz vor der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, zwölf Menschen starben, zirka 100 wurden teils schwer verletzt oder sind traumatisiert.

Noch immer melden sich Opfer

Bei Rechtsanwalt Roland Weber, Opferbeauftragter der Stadt, melden sich heute noch Betroffene, die an den Folgen leiden und Hilfe suchen. "Einige haben das nach dem Anschlag mit sich selbst ausgemacht, erst jetzt kommt vieles hoch." Für Verletzte und Hinterbliebene soll es daher mehr finanzielle Unterstützung geben, forderte auch Kurt Beck (SPD), Opferbeauftragter der Bundesregierung. Im internationalen Vergleich seien die bisher in Deutschland ausgezahlten 10.000 Euro bei getöteten Partnern oder Eltern "allenfalls im unteren Mittelfeld". Auch die Entschädigungsabläufe, die auf verschiedenen Institutionen und Rechtsgrundlagen verteilt sind, müssen reorganisiert werden. Einen Teil der Zahlungen übernahm die Verkehrsopferhilfe der deutschen Versicherungsbranche, weil die Tatwaffe ein Lastwagen war. Dies hätte bei einem Bombenattentat nicht funktioniert.

Zudem brauche es eine zentrale Anlaufstelle, die mit Betroffenen schnell Kontakt aufnimmt. Genau das wurde nämlich verabsäumt, berichtet Anwalt Weber. Noch in der Nacht des Anschlags war die Identität von elf Toten geklärt, doch die Angehörigen mussten tagelang warten – "ein unerträglicher Zustand." Ebenso unerträglich empfanden es viele, dass Kanzlerin Angela Merkel ihnen weder persönlich noch schriftlich kondolierte. Daraus und durch Bekanntwerden der Ermittlungspannen im Fall Amri, wuchsen ihre Wut und Enttäuschung, die sie zuletzt in einem offenen Brief im Spiegel äußerten.

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Unverständlich finden das auch Marktbesucher, wie ein älteres Ehepaar aus Berlin-Reinickendorf. Mit Blick auf die Kerzen vor der Kirche, spricht die Seniorin ihren Ärger aus: "Wie konnte das passieren? Vor allem habe man gewusst, dass der Täter vorbestraft ist, fügt ihr Mann hinzu. "Dass da nix gemacht wurde, find ich ungeheuerlich." Angst haben die beiden nicht, sie haben sich bewusst für den Spaziergang zum Weihnachtsmarkt entschieden. "Wir werden uns sicher nicht daheim einsperren, genau das hätten diese Menschen ja gewollt", sagt die Frau und zieht ihren Mann weiter.

Ein paar Meter entfernt steht Pfarrer Martin Germer, in der Kapelle der Gedächtniskirche blickt er zurück auf den 19. Dezember. Dass etwas Schlimmes passiert ist, ahnte der Seelsorger, als er an jenem Abend telefonisch verständigt wurde – ein LKW sei in den Platz neben seiner Kirche gelenkt worden, berichtete ihm die Pressesprecherin der Evangelischen Kirche. "Nizza war ein halbes Jahr her, da war mein erster Gedanke, dass kann kein Unfall sein", sagt der Mann mit der festen und lauten Stimme. Sein zweiter Gedanke war eine Frage: "Warum tut ein Mensch so etwas?" Doch viel Zeit zum Nachdenken blieb ihm damals nicht. Er musste für die Menschen da sein, sprach mit den Schaustellern, die selbst knapp überlebten und mitansahen, wie Menschen vor ihren Ständen starben. Bis auf einen Händler sind heuer alle wieder da, berichtet der Vorsitzende der AG City, Klaus-Jürgen Meier. "Sie stehen in vollem Bewusstsein hier, ohne Angst", das habe man der Kanzlerin vermittelt, die am Montag kam. Nächste Woche wird sie die Angehörigen der Opfer treffen – auf deren ausdrücklichen Wunsch.

Der Brückenbauer

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Auch Pfarrer Germer stand in den Tagen nach den Anschlag mit ihnen in Kontakt - ebenso mit Muslimen in Berlin, die in die Kirche kamen. Er plädiert für einen fairen Umgang mit ihnen und versuchte immer, positive Erfahrungen zu vermitteln. "Dabei sind wir auch darauf angewiesen, dass uns Menschen wie Imame, die auf Muslime Einfluss haben, unterstützen", erklärt er. Wie etwa nach dem Anschlag, als sie einen Gottesdienst mitgestalteten oder geholfen haben, eine überkonfessionelle Friedensdemonstration zu organisieren – um den "Opfern von Gewalt im Namen von Religionen" zu gedenken.

An die Toten vom Breitscheidplatz erinnert heute das provisorische Mahnmal aus Blumen, Kerzen und Kreuzen. In wenigen Tagen, am 19. Dezember, wird das neue enthüllt: Eine Platte mit ihren Namen, Herkunftsländern und einem Riss, der durch eine goldene Legierung aufgefüllt ist – er steht für den Riss im Leben und in der Gesellschaft, der verursacht werden sollte, aber nicht gelang.