Aufklärer im Dienste der Machtlosen
Syriens Machthaber Assad behauptet, ihr Report wurde von Qatar finanziert, Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sieht in den Aufdeckungen nur Propaganda und „Fake News“ – wenn Eyal Weizman und sein Team ein geheimes syrisches Foltergefängnis aufdecken oder belegen, dass ein Schusswechsel in der Negev-Wüste, bei der ein israelischer Soldat starb, kein Terrorangriff von Beduinen war, kommt das bei den Staatschefs selten gut an. Wie der israelischstämmige Architekt und seine Mitarbeiter vom Londoner Institut Forensic Architecture am Goldsmiths College dabei vorgehen, erklärte er zuletzt auf der Digitalkonferenz Republica in Berlin.
Die Arbeit der Gruppe aus Wissenschaftlern, Künstlern, Filmemachern, Journalisten, Anwälten und Menschenrechtsexperten, die sich als counter-forensic agency bezeichnen, beginnt dort, wo jene der Strafverfolgungsbehörden endet. Sie rekonstruieren Tatorte mittels Bildern, Videos und Daten aus sozialen Netzwerken und Open-Source-Programmen, verwenden aber genauso Zeugenaussagen. So entstand etwa ein Computermodell des syrischen Foltergefängnisses Saydnaya, das sie unter anderem mithilfe der visuellen und akustischen Eindrücke von Insassen nachbauten, berichtet Weizman.
Ähnlich aufwendig waren auch die Recherchen zum Mord des deutschen Internetcafébesitzers Halit Yozgat, der auf das Konto der NSU-Terroristen geht. Lange rätselte man über die Rolle eines Verfassungsschützers, der zum Tatzeitpunkt im Nebenraum saß, aber nichts vom Mord mitbekommen haben will. Die Londoner Forscher lieferten den Gegenbeweis: Sie nahmen ein geleaktes Polizeivideo, das den Verfassungsschützer zeigt, wie er Szenen vom Tatort nachstellte, und kombinierten dazu sämtliche Informationen, wie die Log-in-Daten des Verfassungsschützers. Um die Lautstärke der Schüsse und Ausbreitung des Schießpulvergeruchs zu analysieren, bauten sie das Internetcafe nach. Trotz ihrer Beweise verzichteten die Behörden aus formalen Gründen darauf, Weizman als Sachverständigen für den Prozess zu laden.
Gerichtssaal in der Kunsthalle
Wie in den meisten der 26 Fälle, die sie für Opfer und Angehörige sowie Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder die Vereinten Nationen übernommen haben, kommen diese selten vor Gericht. Dafür sind die Recherchen Munition für deren Reports, wie etwa das Saydnaya-Gefängnis. Oder landen in Museen und Kunsthallen, wie dem Londoner Institute of Contemporary Art oder im Berliner Haus der Kulturen. Weizman sieht die Ausstellungsfläche als alternativen Gerichtssaal, der Debatten anregen soll. Es gehe auch darum, die Informationen für alle Menschen zugänglich zu machen – und eine Gegenöffentlichkeit zu manch staatlicher Propaganda zu schaffen.
Wie etwa in seiner Heimat Israel, wo nach der nächtlichen Räumung eines Beduinendorfs, bei der ein Polizist starb, sofort behauptet wurde, es sei ein Terrorangriff gewesen. Weizmans Team stellte die Attacke nach, analysierte Videos und Bilder sowie den Autopsiebericht. Der getötete angebliche Terrorist hatte eine Schusswunde im Knie – und zwar auf jenem Fuß, der das Gaspedal kontrollierte. Die Forscher konnten zeigen, dass dies der Grund war, warum das Auto beschleunigte und den Polizisten niederfuhr. Zu einem Schuldeingeständnis konnte sich das Sicherheitsministerium nicht durchringen, erzählt Weizman. Sie haben sich darauf verständigt, dass man nicht genau sagen könne, ob es nun ein Terrorakt war oder nicht.