Chronik/Welt

Nach fast 50 Jahren Todeszelle: Greiser Japaner freigesprochen

Es ist einer der erschütterndsten Fälle in der japanischen Justizgeschichte. Mehr als 46 Jahre lang saß Iwao Hakamada wegen der Ermordung seines Chefs und dessen Familie in der Todeszelle.

Mehr als ein halbes Jahrhundert nach Verhängung der Todesstrafe gegen ihn ist der mittlerweile 88-jährige Japaner in einem Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen worden. Das Bezirksgericht im japanischen Shizuoka erklärte den früheren Boxer am Donnerstag für unschuldig. Hakamada gilt als der Häftling, der weltweit am längsten in einer Todeszelle saß.

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Freilassung im Jahr 2014

Hakamada wurde 1968 zum Tode verurteilt. Der frühere Boxer legte nach wochenlangen Polizeiverhören ein Geständnis ab, widerrief es aber später. Er sagte aus, er sei in den brutalen Verhören zu dem Geständnis gezwungen worden. Zudem gab er an, die Beweise seien gefälscht worden.

Dennoch wurde das Todesurteil 1980 vom Obersten Gerichtshof bestätigt. 2014 ordnete dann ein Bezirksgericht überraschend an, dass Hakamada einen neuen Prozess bekommen müsse. Bis zur Wiederaufnahme des Prozesses wurde er freigelassen. Die zumeist in Einzelhaft verbrachten fast fünf Jahrzehnte im Todestrakt haben Hakamada psychisch schwer zugesetzt. Japan ist neben den Vereinigten Staaten die einzige große demokratische Industrienation, in der Todesurteile noch vollstreckt werden.

Zwanzig Tage Verhör

Nach seiner Profi-Karriere als Boxer arbeitete Iwao in einer Sojafabrik. 1966 wurde er verhaftet, nachdem im abgebrannten Haus seines Chefs vier Leichen - die des Chefs, seiner Frau und zweier Kinder - mit Stichwunden gefunden worden waren. Iwao wurden Mord, Raub und Brandstiftung vorgeworfen. Er passte ins Profil des Verdächtigen, das die Polizei damals erstellt hatte, schon allein wegen seiner Vergangenheit als Boxer. Er hatte seine Wohnung auf dem Fabrikgelände, wo auch die Familie seines Chefs wohnte und starb.

Zwanzig Tage lang hielt die Polizei Hakamada fest und verhörte ihn, ohne dass ein Rechtsbeistand anwesend war. Die Zeit wurde knapp. Die Polizei hatte nur noch drei Tage, danach würden sie Iwao freilassen müssen. Am 21. Tag legte Iwao ein Geständnis ab - das er jedoch zum Prozessauftakt widerrief. Die Ermittlungsbeamten hätten ihn während der täglich bis zu zwölf Stunden langen Verhöre geschlagen und bedroht, um ein Geständnis aus ihm herauszupressen.

Laut der japanischen Verfassung reichen Geständnisse allein nicht für einen Schuldspruch. Doch dann will die Polizei fünf rotfarbene Kleidungstücke mit Blut auf dem Boden eines Miso-Tanks gefunden haben - ein Jahr und zwei Monate später. 

"Wir haben wissenschaftliche Beweise, dass blutbefleckte Kleidung, die ein Jahr und zwei Monate lang in Miso liegt, schwarz wird", sagt Hakamadas Verteidiger Hideyo Ogawa. Außerdem hätten DNA-Tests bewiesen, dass das Blut weder von Iwao noch von den Opfern stamme. Nicht einmal von einem Japaner.

"Die Ermittler wussten von Anfang an, dass Hakamada nicht der Schuldige war. Doch obwohl sie das wussten, wollten sie den tatsächlichen Täter davon kommen lassen und haben Beweise so fabriziert, dass sie auf Herrn Hakamada passten", erklärt Ogawa.

1968 wurde Iwao zum Tode verurteilt. Eine Berufung scheiterte. 1980 bestätigte der Oberste Gerichtshof das Todesurteil gegen Hakamada. Wie die meisten in Japan zum Tode Verurteilten verbrachte er die folgenden Jahrzehnte meist in Einzelhaft. Gefangenen in Japans Todeszellen wird erst wenige Minuten vor der Hinrichtung am Galgen mitgeteilt, dass sie sterben werden. Viele treibt das in den Wahnsinn.

Sämtliche Bemühungen von Iwaos Anwälten um Wiederaufnahme des Verfahrens blieben erfolglos. 2007 erklärte einer der drei Richter, die ihn zum Tode verurteilt hatten, er halte Hakamada für unschuldig. Er habe an der Echtheit seines Geständnisses gezweifelt, es sei ihm aber nicht gelungen, seine Kollegen zu überzeugen. Aus Schuldgefühlen über das Urteil trat der Richter schließlich von seinem Amt zurück. Er versuchte, Hakamada im Gefängnis zu besuchen, um sich bei ihm zu entschuldigen, doch wurde ihm dies laut Medienberichten verweigert.

2008 verlangte Iwaos Schwester Hideko vor dem Bezirksgericht Shizuoka erneut eine Wiederaufnahme des Verfahrens, dem erst 2014 schließlich stattgegeben wurde. "Die japanischen Behörden sollten sich für die barbarische Behandlung, die Hakamada erhielt, schämen", sagte eine Sprecherin von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International.

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Seither ist Iwao zwar auf freiem Fuß. Hakamada ist inzwischen 88 Jahre alt. Die jahrzehntelange Isolationshaft hat den einstigen Profi-Boxer psychisch und physisch gezeichnet. Er ist nicht mehr in der Lage, die Realität zu begreifen. "Er lebt jetzt in einer Wahnvorstellung", erzählte seine 90 Jahre alte Schwester Hideko im Vorjahr gegenüber Journalisten im Club der Auslandskorrespondenten in Tokio. "Er glaubt, der Prozess sei vorbei." All die Jahrzehnte hat Hideko für ihren Bruder gekämpft, um seine Unschuld zu beweisen.