Lokalaugenschein: Pariser sind erleichtert, dass Notre-Dame noch steht
Von Danny Leder
„Ich habe den Herrgott gefragt: Warum? Die Antwort bekomme ich wohl erst, wenn ich in den Himmel gelange“, räsoniert Monsignore Patrick Chauvet. Der schmale Erzpriester von Notre Dame steht, leicht zitternd, in der kalten Aprilnacht von Montag auf Dienstag, während im Hintergrund noch vereinzelt Flammen lodern. Daneben, die Hand zu ihm stützend ausgestreckt, befindet sich die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo. Die sozialistische Rathauschefin kann sich einen Anflug von dankbarem Lächeln nicht verbeißen über den subtilen, selbstironischen Trost, den der Priester der verstörten Öffentlichkeit spendet.
Der Kleriker wendet sich zur Bürgermeisterin und sagt: „Mit Anne werden wir den Wiederaufbau schaffen. Wir können doch eine 850 jährige Dame (gemeint ist die Kathedrale) nicht im Stich lassen“. Das kirchlich-sozialistische Duo verstrahlt Zuversicht. Gegen Mitternacht scheint das Feuer gebannt und die Gebäudestruktur im Wesentlichen gerettet.
Die Pariser atmen auf. Aber viele finden trotzdem keinen Schlaf. Meine 80 jährige Schwiegermutter wird mir anderntags erzählen, dass sie die TV-Bilder von dem Brand in einen Trance-artigen Marsch durch die nächtlichen Straßen getrieben haben: „Ich wollte mich von der Beständigkeit meiner sonstigen Umgebung überzeugen“.
„Kein Zufall“
Mein Zeitungshändler, der leider kaum Zeitungen liest und stattdessen obskuren Webportalen verfallen ist, begrüßt mich am Dienstag-Morgen mit verschwörerischen Raunen: „Das kann kein Zufall sein, ausgerechnet zu Beginn der Karwoche und am Abend des Auftritts von Macron (Der Staatschef sollte ursprünglich am Montag per TV seine Schlussfolgerungen aus den landesweiten Bürgerdiskussionen präsentieren, um den Gelbwesten-Aufstand das Fahrwasser zu entziehen. Macron verschob dann seinen Auftritt).“
Ich frage nach: „Nützt das jetzt Macron oder den Gelbwesten?“ Aber die Antwort des Zeitungshändlers bleibt vage: „Wir werden nie die Wahrheit erfahren“.
Um doch noch etwas zu erfahren, fahre ich zum Brandplatz. Das unmittelbare Areal um die Kathedrale ist gesperrt. Aber noch in Sichtweite des Gebäudes, entlang der Seine und auf ihren Brücken, ist die Menschendichte erschreckend – freilich nicht für alle: „An einem Dienstag hatten wir hier noch nie so viel Touristen,“ freut sich ein Franko-Afrikaner, der einen der berühmten „Bouquinisten“-Stände betreibt.
Die „Bouquinisten“ handeln traditionell mit mehr oder weniger antiquarischen Büchern. Einige verkaufen auch Paris-Gemälde, importiert aus China, wo aquarellierende Tagelöhner mit Blick auf Ansichtskarten alle Sehenswürdigkeiten dieser Welt nachpinseln. „Üblicherweise wollen die Leute hauptsächlich Bilder vom Eifelturm, aber heute ist nur Notre-Dame gefragt“, bemerkt der „Bouquinist“.
Enttäuschte Chinesen
Erschüttert ist hier kaum jemand. Die vordere Fassade der Kathedrale wirkt intakt, aus der Entfernung von rund drei hundert Metern sind kaum Brandspuren zu erkennen. Dass das Schrägdach über dem Kirchenschiff, Statuen und eine Turmspitze fehlen, merken nur diejenigen, die das Gebäude wirklich kennen. Das sorgt teilweise für Enttäuschung: Chinesische Flitterwöchler versuchen vergebens Beweise der Zerstörung auf ihr Smartphone zu bannen. Jede Hoffnung haben sie aber noch nicht aufgegeben, zumal sie eine Fahrt auf einem der „Bateaux-Mouche“ auf der Seine gebucht haben. Vom Schiff aus versprechen sie sich bessere Chancen für ein Katastrophen-Foto.
In der Menge schnappe ich Wortfetzen auf, die nach vertrauter alpiner Mundart klingen. Ein junges Paar, beide Volksschullehrer aus Innsbruck, sind „auf Oschter-Ferien“ in Paris. Von ihrem Campingplatz aus, an der Stadteinfahrt, sahen sie nachts „so grünliche Wolken“ und dachten erst an einen „Fabrikbrand“. Nun sind sie „am Weg ins Picasso-Museum“ an der Kathedrale vorbeigekommen. „Wir wollten gestern Notre Dame besuchen, waren aber zu müde. Und jetzt ist es zu spät“, bedauert die Tirolerin.
Man muss schon suchen, um auch Pariser in der Masse zu finden. Aber es gibt sie, und sie zeigen sich meistens erleichtert darüber, dass Notre Dame noch steht. „Nach den
Berichten der TV-Sender von gestern dachte ich, es wären nur mehr Ruinen zu sehen“, erzählt eine junge Frau, die zu Fuß aus einem entlegenen Bezirk kam: „Das war für mich so eine Art Pilgerwanderung.“
Pariser Grübeleien
Stehen Pariser beieinander, wird gegrübelt: Wie konnte der Brand so schnell um sich greifen? Hätte man nicht doch von Hubschraubern aus Wassermengen abwerfen können? Musste sich Frankreich das ausgerechnet von Donald Trump vorhalten lassen? War das wirklich nur ein technisches Versagen, und gab es da nicht zuletzt schon eine Reihe von Brandlegungen und Zerstörungen in Kirchen? Viele relativieren das Geschehen, weil keine Menschen zu Schaden kamen.
Bei älteren Semestern kommt dann doch eine gewisse Melancholie auf: „Ich werde wohl zu Lebzeiten die restaurierte Kathedrale nicht mehr betreten können“, vermutet eine Dame, die in Kindesjahren, nach der Befreiung von Paris von den deutschen Besatzern, dem Dankesgottesdienst in Notre Dame beigewohnt hatte.