Chronik

Warum Menschen Hasspostings schreiben

Die Gerichtspsychiaterin Heidi Kastner ist Chefärztin der forensischen Abteilung der Landes-Nervenklinik Wagner-Jauregg in Linz.

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KURIER: Was veranlasst Menschen zu Hasspostings?
Heidi Kastner: Die scheinbare Anonymität verführt viele dazu, ihren unangenehmen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Man konnte lange Zeit im Internet die Sau rauslassen, ohne Konsequenzen zu befürchten. Jede Maßnahme, die deutlich macht, dass man sich nicht ungestraft in untergriffigster Form äußern kann, ist zu begrüßen. Wir wollen das ja alle ungern glauben: Aber viele Menschen gehen so weit, so weit man sie lässt. Natürlich haben viele innere Sanktionsinstanzen und wissen von selbst, wann es genug ist und wo die Grenze ist. Aber es gibt auch Menschen, denen diese innere Instanz fehlt – und die werden erst gestoppt, wenn ihnen eine äußere Instanz eine Grenze setzt.

Ist das ein ganz neues Phänomen?
Nein, das gibt es nicht erst seit der Verbreitung des Internet. Auch früher gab es immer schon eine gewisse Gruppe von anonymen Briefschreibern, die andere mit Worten bedroht haben. Und auch schon vor acht oder neun Jahren gab es solche Postings. Heute ist das Internet viel präsenter, verbreiteter, und wahrscheinlich hat dieses Phänomen generell auch zugenommen. Aber dass sich Menschen extrem untergriffig äußern, das hat es immer schon gegeben. Sicher ist heute aber auch aufgrund dieser Intensität das Bewusstsein stärker, dass man dagegen vorgehen muss.

Spielt auch eine Rolle, dass viele das Gefühl haben, gewisse radikale Haltungen seien akzeptierter als früher?
Die weltweite Vernetzung von Ursache und Wirkung macht für viele Menschen das Leben immer unüberschaubarer. Dieses Gefühl, einer undurchsichtigen Sache ausgeliefert zu sein, verunsichert viele und führt dazu, dass man Vermutungen anstellt, mit denen man aber sehr danebenliegen kann. Dazu kommt, dass sich in fast allen europäischen Ländern politische Bewegungen etabliert haben, die meinen, es sei mittlerweile salonfähig, sich vor allem über die Hetze gegen bestimmte Personengruppen zu profilieren. Damit kann man Verunsicherte auf seine Seite bringen.

Weil Ihnen einfache Lösungen versprochen werden?
Ja. Wer vermeintlich einfache Lösungen anbietet, kann damit rechnen, dass all jene, die sich nicht wirklich auskennen und fürchten, denken, ,irgendeine Gruppe muss ja schuld an allem sein‘. Der Rattenfänger von Hameln ist sehr modern. Aber es gibt Sachverhalte, die sind so komplex, dass man sie nicht in einfach in einigen wenigen Sätzen erklären kann. Nur sind halt einfache Erklärungen eine Einladung für alle Einfältigen.

Wird dann ein vermeintlicher Feind identifiziert, gibt das Sicherheit. Ich brauche mich nicht mehr so verunsichert fühlen, weil dann habe ich eine konkrete Zielgruppe, auf die ich losgehen kann. Und wenn ich sehe, dass das auch in alltäglichen politischen Stellungnahmen gemacht wird, dann fördert das die Einstellung, es sei eh gerechtfertigt, sich so zu äußern. Was auch hinzukommt: Generell sind Frechheit und Untergriffigkeit teilweise sicher ein Massenphänomen geworden.

Ein Verlust der guten Sitten?
Ja, das ist ein Phänomen auf vielen Ebenen, das nicht nur an den Hasspostings festzumachen ist: Dass man sich nicht mehr bedankt, älteren Menschen in der Straßenbahn nicht mehr den Platz überlässt. Das kommt auch dazu.