Chronik/Österreich

Vom Wald in die Gruft

Kurze Haare, blaue Augen, schüchternes Lächeln. Michael wirkt leicht nervös. Heute kommt er im grauen Pullover und Jeans zu dem Interview. Neben ihm sitzt seine Psychotherapeutin Nina Pöll, die eine beruhigende Wirkung auf ihn hat. Beim ersten Treffen vor zehn Jahren war Michael noch obdachlos und konnte kaum mit anderen Menschen kommunizieren. Vor zehn Jahren wäre so ein Interview für ihn nicht möglich gewesen.

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Ziemlich abgehärtet

„Wenn die Caritas mich damals nicht auf der Straße aufgelesen hätte, dann würde ich heute nicht mehr leben. Wenn es die Caritas nicht gebe, wären viele von uns heute nicht mehr da“, sagt Michael mit ernstem Blick. Seit zehn Jahren ist Michael Klient der Gruft, einem der bekanntesten Notquartiere Wiens für obdachlose Menschen, gelegen im sechsten Bezirk nahe der Mariahilfer Straße. „Ich habe viele Jahre im Wald geschlafen“, erzählt er und betont, dass er nicht jedes Detail aus seinem Leben offenlegen möchte. Nur so viel: „Die ersten Jahre in der Kälte waren nicht sehr schön, aber ich habe mich daran gewöhnt. Ich bin ziemlich abgehärtet.“ Im Wald könne man viel bauen, die Not mache erfinderisch. Es könne sogar etwas warm werden, wenn man wisse, wie man das schafft. Michael hat auch bei Bekannten auf der Couch geschlafen, manchmal auch in feuchten Kellern. Aber die längste Zeit im Freien. „Ich erinnere mich, es gab einen Punkt, an dem ich furchtbaren Hunger hatte. Ich hatte die ganze Zeit Schmerzen vor Hunger. Und dann bin ich zu einer Zweigstelle der Caritas und habe um eine Mahlzeit gebeten.“

Von da an kannten die Sozialarbeiter Michael und besuchten ihn an seinen Schlafplätzen im Freien. „Sie haben sich um mich gekümmert.“ Eine neue Erfahrung für Michael.

Das Tageszentrum der Gruft in Wien-Mariahilf bietet Sitzplätze für 80 Personen. Rund 150 Obdachlose kommen täglich zum Essen. In der Notschlafstelle gibt es 60 Betten, 16 davon sind für Frauen reserviert. Seit dem Jahr 2005 gibt es die Kardinal-König-Patenschaft von Raiffeisen und KURIER, bei der jährlich Spenden für die Gruft gesammelt werden. 

Spendenkonto Caritas der Erzdiözese Wien
Kontonummer: AT46 3200 0000 0811 9901, BIC: RLNWATWW, Kennwort: Gruft   

Und dann kam er in die Gruft, wo er die Psychotherapeutin Nina Pöll kennengelernt hat. Seit zehn Jahren spricht er regelmäßig mit ihr, hat sich ihr geöffnet, wie er es zuvor noch bei keinem anderen Menschen getan hat. „Es hat viel Zeit gebraucht, bis er Vertrauen zu mir aufgebaut hat“, erzählt Pöll. Michael habe viele schlechte Beziehungserfahrungen in seinem Leben gemacht. „Daher war das Schwierigste für ihn, zu mir eine gesunde Beziehung aufzubauen.“ Über zwei Jahre habe es gedauert, bis Michael begann, mehr zu reden. „Am Anfang haben wir einfach zusammen gegessen. Durch seine Sozialphobie war es ihm nicht möglich, das im Gemeinschaftsraum zu tun. Daher habe ich gesagt, dann essen wir einfach zu zweit im Therapieraum“, sagt Pöll.

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Es braucht Vertrauen

Die Therapie könne eigentlich, so die Expertin, erst dann richtig beginnen, wenn der Klient ihr vertraut. Michael sagt, für ihn war es vor allem die Regelmäßigkeit, die dieses Gefühl in ihm zuließ. „Frau Pöll hat mir Antrieb gegeben, mich mit meinen Problemen auseinanderzusetzen.“

Die Therapeutin betont, dass Michael keinen Ratschlag von ihr angenommen hätte, wenn sie zu Beginn zu viel Druck gemacht hätte. „Es braucht die Zeit, die es braucht. Wenn ich ihm sage, es ist wichtig, dass er sich mit anderen Menschen in Konfrontation begibt, dann muss er das von mir annehmen und mir auch glauben. Und das funktioniert eben nur durch Vertrauen.“

Hätte sie gewisse Therapieschritte zu schnell gesetzt, wäre Michael nicht mehr gekommen. Da ist Pöll sicher und spricht aus Erfahrung. Immerhin ist sie seit 14 Jahren als Psychologin und Psychotherapeutin in der Gruft tätig. Jeden Mittwoch ist sie von 11 bis 18 Uhr vor Ort, derzeit betreut sie rund 20 Klienten und Klientinnen. In der Gruft gibt es jeden Tag  einen psychologischen Dienst, außerdem steht ein Psychiater zur Verfügung, der etwa bei Schlafproblemen unterstützen kann.

Die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen der Gruft helfen Michael bei Amtswegen und Schriftverkehr. „Unsere Klienten und Klientinnen können solche Dinge nicht selbst organisieren. Wir arbeiten niederschwellig. Wir betreuen Menschen, die nirgends anders betreut werden“, sagt Pöll und nimmt Michael als Beispiel. Er hätte mit der Sozialphobie nie in eine Klinik gehen können, um sich eine Therapie zu organisieren.

Nicht aufgeben

Michael geht es heute „um einiges besser“, wie er sagt. „Als ich das erste Mal mit Frau Pöll gesprochen habe, konnte ich nicht einmal allein einkaufen gehen.“ Heute hat Michael eine eigene Wohnung, eine Sozialwohnung am Stadtrand. Wenn er in die Gruft kommt, geht er zu Fuß. Denn mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, das schafft er noch nicht.

Michael möchte wieder arbeiten. „Aber durch meine Phobien ist es schwierig, einen Job zu finden.“ Seinen letzten Job habe er genau deshalb aufgeben müssen. Aber das sei viele Jahre her, er möchte es nun erneut probieren. Auf eine aktuelle Bewerbung erhielt er eine Absage aufgrund seines Alters, erzählt er. „Ich bin 53 Jahre alt und dort wollte man ein junges, dynamisches Team“. Auch die Lücken im Lebenslauf seien nicht hilfreich.

Doch aufgeben ist für Michael keine Option. Er macht jeden Tag Sport, am liebsten geht er laufen. Alkohol trinkt er nicht: „Das kommt für mich überhaupt nicht infrage.“