Verharmlosende Lawinenwarnstufen
Von Christian Willim
Am vergangenen Samstag waren Tirols Bergretter im Dauereinsatz. Sie mussten zu 18 Lawineneinsätzen ausrücken. In einem Fall konnten fünf tschechische Freerider, wie berichtet, nur noch tot aus einem riesigen Lawinenkegel geborgen werden. Dieser Katastrophentag hat die Diskussion um die Abschreckungskraft der Lawinenwarnstufen erneut angeheizt. In Tirol war – wie bereits seit Anfang des Jahres nahezu ununterbrochen – mit Stufe 3 der fünfteiligen Skala "erhebliche" Lawinengefahr ausgerufen.
Bereits vor einem Jahr hat Rudi Mair vom Tiroler Lawinenwarndienst im KURIER "schärfere Bezeichnungen" für die Warnstufen gefordert. Doch eine Nachschärfung der international gültigen Gefahrenskala scheint in weiter Ferne. Mair war bereits 1993 dabei, als sich die europäischen Lawinenwarndienste auf ein gemeinsames System geeinigt hatten. "Das war ein Kompromiss. Davor ist jeder seinen eigenen Weg gegangen", erzählt der Tiroler. Später seien auch die Nordamerikaner, die Australier und die Neuseeländer aufgesprungen.
Meisten Unfälle bei 3
Aber der Begriff "erheblich" für die Stufe 3 war von Anfang an umstritten. Immerhin passieren, das zeigt die langjährige Erfahrung, die meisten Lawinenunfälle in diesem Bereich. So auch im vergangenen Winter. 59 von 92 Verschüttungen mit Verletzten oder Toten ereigneten sich bei "erheblicher Gefahr", wie Zahlen des Kuratoriums für Alpine Sicherheit zeigen. Jeder zweite tödliche Unfall geschah bei Warnstufe 3.
"Wir müssen die breite Masse erreichen. Und die hört darauf, wie die Warnstufe heißt", bekräftigt Rudi Mair erneut. Bereits 2009 und auch im Vorjahr startete er bei internationalen Fachtagungen Anläufe für Umbenennungen. Sein Vorschlag: Warnstufe 3 von "erheblich" in "groß" umzubenennen, "groß" (4) in "sehr groß" und "sehr groß" (5) in "extrem". "Der Warncharakter wäre größer", sagt Mair.
Doch bislang fand dieser Vorstoß keine Zustimmung. Bei der Arbeitsgruppe der Europäischen Lawinenwarndienste handelt es sich nicht um eine Organisation im klassischen Sinne, bei der unter klaren Vorgaben über Vorschläge abgestimmt wird. "Entweder machen alle mit oder keiner", erklärt Mair. Bei Alleingängen würde das ganze System zerbrechen.
Doch die Skepsis bei Mairs Kollegen, ob sich Tourengeher von Begriffen abschrecken lassen, ist groß. "Man muss in aller Ruhe darüber diskutieren. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass das funktioniert", sagt Hans Konetschny vom Lawinenwarndienst Bayern. Er glaubt, dass eine Umbenennung der Stufe 3 in "große" Gefahr, "ihre Kraft schnell wieder verlieren würde".
Das sieht auch Jürg Schweizer vom Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) im Schweizer Davos ähnlich. "Der Effekt wäre nur sehr kurzfristig. Man wird schnell unglaubwürdig, wenn man über ein Drittel des Winters vor großer Lawinengefahr warnt." Schweizer sieht kein großes internationales Echo auf Mairs Vorschläge.
Skepsis in Salzburg
Und selbst in Österreich sind nicht alle Experten von der Wirkkraft neuer Namen überzeugt. "Die Diskussion gibt es schon ewig. Aber ich glaube nicht, dass andere Bezeichnungen etwas besser machen würde", sagt Bernhard Niedermoser, Leiter der Salzburger Lawinenwarnzentrale. In einem sind sich aber alle Experten inklusive Rudi Mair einig. Den Wintersportlern muss klar gemacht werden, dass für sie ohnehin nur vier der fünf Gefahrenstufen relevant sind und Stufe 3 damit bereits einen hohen Warncharakter hat.
"Sehr große Lawinengefahr (Stufe 5) wurde bis jetzt erst einmal 1999 im Winter des Galtür-Unglücks ausgegeben", sagt Mair. Dieser Level ist also ein absolutes Katastrophenszenario, bei dem auch Straßen und Siedlungsgebiete in Gefahr sind und bei dem kein Skifahrer mehr etwas im Gelände verloren hat.
In den Tiefschnee sollten sich in den kommenden Tagen nur jene wagen, die Lawinengefahren beurteilen können. Denn es bleibt vorerst bei Warnstufe 3.