Wie Suizidgefährdete in Haft überwacht werden
Der Terrorverdächtige Jaber al-Bakr hat sich in seiner Gefängniszelle in Leipzig erhängt — und keiner hat etwas bemerkt. Auch in Österreich begehen pro Jahr im Schnitt etwa zehn Häftlinge Selbstmord. Die Rate ist weit höher als jene der Gesamtbevölkerung. Aber warum gelingt es selbst in überwachten Haftanstalten oft nicht, Menschen am Suizid zu hindern? Der Psychiater und ehemalige ärztliche Leiter der Sonderhaftanstalt Mittersteig in Wien, Patrick Frottier, hat jenes computerbasierte System mitentwickelt, mit dem seit 2007 in heimischen Gefängnissen eingestuft wird, ob ein Insasse selbstmordgefährdet ist. Seit der Einführung des Systems sind die Suizidraten deutlich gesunken. Im Interview langjähriger ärztlicher Leiter der Sonderhaftanstalt am Mittersteig in Wien - derstandard.at/2000001505351/StrafvollzugOhne-Therapie-wenig-Chance-auf-Resozialisierungderlangjähriger ärztlicher Leiter der Sonderhaftanstalt am Mittersteig in Wien - derstandard.at/2000001505351/StrafvollzugOhne-Therapie-wenig-Chance-auf-Resozialisierunglangjähriger ärztlicher Leiter der Sonderhaftanstalt am Mittersteig in Wien - derstandard.at/2000001505351/StrafvollzugOhne-Therapie-wenig-Chance-auf-Resozialisierunglangjähriger ärztlicher Leiter der Sonderhaftanstalt am Mittersteig in Wien - derstandard.at/2000001505351/StrafvollzugOhne-Therapie-wenig-Chance-auf-Resozialisierunglangjähriger ärztlicher Leiter der Sonderhaftanstalt am Mittersteig in Wien - derstandard.at/2000001505351/StrafvollzugOhne-Therapie-wenig-Chance-auf-Resozialisierunglangjähriger ärztlicher Leiter der Sonderhaftanstalt am Mittersteig in Wien - derstandard.at/2000001505351/StrafvollzugOhne-Therapie-wenig-Chance-auf-Resozialisierungerklärt Frottier, wie Selbstmorde verhindert werden, was bei Terroristen besondere Risikofaktoren sind und wo die Grenzen des Machbaren liegen.
KURIER: Herr Frottier, zu Beginn eine vielleicht etwas naive Frage: Wie kann es sein, dass Menschen in einer derart überwachbaren Umgebung, wie es Gefängnisse sind, Suizid begehen können?
Patrick Frottier: Prinzipiell ist es so, dass wir aus Schutz der Intimsphäre und Datenschutzgründen in österreichischen Gefängnissen eine durchgehende Beobachtung, zum Beispiel per Video, nicht durchführen können. Jemand geht auf die Toilette, geht unter die Dusche – das kann man nicht durchgehend überprüfen. Wir wollen nicht jemanden per Video beobachten, wie er am Klo sitzt. Es gibt einen Freiraum, den wir immer noch zulassen müssen. Das ist das Restrisiko, dass bleibt.
Was kann man stattdessen tun?
Man kann die Maßnahmen so engmaschig setzen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass etwas passiert, deutlich minimiert wird. Vor allem für jene Personen, bei denen vorher festgestellt wurde, dass vermehrt Risikofaktoren vorhanden sind.
Es gibt zwischen den einzelnen Haftarten extreme Unterschiede bei den Suizidraten. 2014 waren es in der U-Haft hochgerechnet 176,6 auf 100.000 Häftlinge. Im Maßnahmenvollzug 113,5 und in der Strafhaft nur 32,8 (Gesamtbevölkerung: 12,8). Was sind die Gründe dafür?
Beim Maßnahmenvollzug ist es deswegen leicht erklärbar, weil die Suizidrate hier der Rate in psychiatrischen Populationen sehr ähnlich ist, psychische Störungen sind suizidale Risikofaktoren.
Im Maßnahmenvollzug und in der U-Haft kommt hinzu, dass es ein unklares Haftende gibt. Dass man nicht weiß, wann man entlassen wird. Das ist ein belastender Faktor. Auf der anderen Seite haben Sie die Strafhaft, wo ein ganz klares Ende gegeben ist. Da haben nur die zu lebenslänglicher Haft Verurteilten eine deutlich erhöhte Suizidrate. Gewalttäter haben zudem ein höheres Risiko als zum Beispiel Diebe.
Soziale Risikofaktoren sind zusätzlich der Verlust der vertrauten sozialen Umgebung und der Arbeit, der Familie und dergleichen. Wenn ich in die U-Haft komme, Verlustängste habe, eine Gewalttat begangen habe und befürchte, dass es eine sehr lange sein wird, dann kumulieren die Faktoren. Deswegen haben wir in der U-Haft die höchste Zahl an Suiziden und in der Strafhaft die geringste.
Was sind die Risikofaktoren für Straftäter wie Terroristen, die ideologisch getrieben sind und wo der Selbstmord auch ein politischer Akt sein kann?
Der erste Risikofaktor ist, dass jemand, der eine Gewalttat setzen will, ein höheres Aggressionspotenzial hat. Wenn die Person die Aggression nach außen nicht mehr ausleben kann, richtet sich das gegen sie selbst. Das ist das, was wir „gehemmte Aggression“ nennen.
Ein Selbstmordattentäter, der überlebt hat, hat mir einmal im Interview erzählt, dass er in Wahrheit versagt habe. Sein Auftrag war das Attentat und die Tatsache, dass er noch lebte, bedeutete für ihn, dass er es nicht geschafft hat. Das Nicht-Erreichen des Ziels kann eine suizidale Konsequenz haben. Das ist ein zweiter Faktor.
Das heißt, dass man diese Menschen von vornherein als gefährdet einstufen sollte?
Prinzipiell haben Menschen, die eine Gewalttat begangen haben, ein erhöhtes Risiko. Aber man muss vorsichtig sein: Viele haben ein Risiko, aber wenige machen es dann tatsächlich. Den Einzelfall in Deutschland kann ich daher nicht bewerten. Aber es ist nachvollziehbar, dass aufgrund der Vorgeschichte ein erhöhtes Risiko vorgelegen hat. Wie dann die klinisch-psychologische Einschätzung gelautet hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Offensichtlich wurde kein Risiko gesehen. Das ist zu akzeptieren.
Was sind das konkret für Maßnahmen, die man in Österreich bei Suizidgefahr trifft?
Die sind abgestuft. Die leichteste Maßnahme ist, dass Sie jemanden nicht in einen Einzelhaftraum legen, sondern zusammen mit ein oder zwei anderen Personen, damit eine Begleitung da ist. Das wäre die niederschwelligste Maßnahme.
Eine erhöhte Maßnahme wäre das Listener-System, so wie wir es in Österreich auch haben. Ein Listener ist ein Insasse, der von Fachkräften zu diesem Zweck Supervision erhält. Er wird dabei unterstützt, anderen zu helfen. (Ein solcher "Listener" – aus dem Englischen: "Zuhörer"– wird derzeit in der Zelle jenes Polizisten eingesetzt, der im Verdacht steht, kürzlich seinen Sohn und seine schwangere Frau ermordet zu haben, Anm.)
Bekommen die Listener eine Anleitung, worauf sie achten müssen?
Grundsätzlich wurde bereits erkannt, dass eine Gefahr besteht, ansonsten würde kein Listener zur Seite gestellt werden. Der Listener muss kein professionelles Wissen haben. In erster Linie soll er einfach da sein, sich als Zuhörer anbieten, mit dem Betroffenen sprechen und wenn er den Eindruck hat, dass eine Notsituation vorliegt, Beamte oder Fachkräfte verständigen.
Gibt es für diese Insassen im Gegenzug eine Art Kompensation?
Er erhält Supervision, aber keine Belohnung. Weder finanziell noch sonst irgendwie. Das ist eine freiwillige Maßnahme. Die Personen werden nach den richtigen Fähigkeiten ausgewählt. Es sind häufig Menschen, die viel Hafterfahrung, aber selbst keine suizidalen Gedanken haben. In der Freiheit würde man Hilfe zur Selbsthilfe dazu sagen, wo einer eine Art Mentorenfunktion hat.
Was passiert in der nächsten Stufe der Gefährdung?
In der nächsten Stufe gibt es eine akute suizidale Gefahr. In diesen Fällen kommt es zur sofortigen Vorstellung einer echten Fachkraft, das kann eine Psychiaterin oder klinische Psychologin sein, die feststellen kann, ob eine psychiatrische Erkrankung und eine suizidale Einengung vorliegt. Stellt sie dies fest, kommen wieder neue Maßnahmen zum Einsatz. In extremen Fällen kann das die Einlieferung in eine geschlossene psychiatrische Abteilung mit Dauerbetreuung sein.
Wie unterscheidet sich diese Unterbringung vom Vollzug, werden die Überwachungslücken geschlossen? Die Privatsphäre muss ja auch dort erhalten werden.
Die Privatsphäre ist zwar schon noch da. Aber die psychiatrische Pflege ist hochfrequenter, engmaschiger und professioneller. Hinzu kommt möglicherweise die medikamentöse Behandlung, nachgehende Betreuung, Tagesstrukturen, Ergotherapie. Der Betroffene ist viel mehr eingebunden in ein therapeutisches Umfeld, das ein ganz anderes ist, als ein Gefängnis.
Sie haben das Viennese Instrument for Suicidality in Correctional Institutions (VISCI) mitentwickelt, ein computerbasiertes System, dass bei der Gefährdungseinstufung helfen soll und seit 2007 in österreichischen Gefängnissen verwendet wird. Wie kann man sich das vorstellen?
Es ist ein Triagesystem bei dem die Betroffenen in drei Stufen, Grün, Gelb und Rot, eingeteilt werden. Danach richtet sich die Intensität der Betreuung. Grün bedeutet, dass keine besondere Betreuung notwendig ist. Gelb ist die niederfrequente Betreuung, also die Unterbringung mit anderen Häftlingen oder mit einem Listener. Bei Rot muss eine kompetente Fachkraft die Person sehen und entsprechende Schritte einleiten. In jedem Fall darf ein "Gelber" oder ein "Roter“ nicht alleine sein.
Was ist neu an diesem System zum Vergleich von vorher?
Die Beamten müssen bei der Aufnahme die Risikofaktoren abfragen und das System errechnet die Einstufung. Natürlich wär es am besten, wenn bei jeder Aufnahme ein Psychiater oder kompetenter klinischer Psychologe die Einstufung vornimmt. Aber das schaffen sie nicht bei 15.000 Aufnahmen in österreichischen Gefängnissen pro Jahr. Die Alternative war, der Justiz etwas in die Hand zu geben, damit rasch entschieden werden kann, ob jetzt jemand in einem Einzelhaftraum untergebracht werden kann oder nicht. Ob jemand Hilfe braucht und woran man das erkennt.
Zweitens, und das ist wesentlich, haben wir jetzt eine Handlungsanleitung. Es gibt klare Kriterien dafür, was bei jeder Einstufung zu tun ist. Das heißt, der Beamte ist aus der Verantwortung herausgenommen. Er ist nur dann in der Verantwortung, wenn er zum Beispiel bei einem „roten“ Insassen nicht die vorgesehen Maßnahmen trifft.
Es kommt auch in Österreich immer wieder einmal vor, dass Personen die als ungefährdet eingestuft sind, im Gefängnis Suizid begehen. Wo liegen die Grenzen des Systems?
Natürlich hat jedes computerisierte System Grenzen. Aber eigentlich ist es dann erfolgreich, wenn sich nur noch "Grüne" suizidieren. Denn das würde ja bedeuten, dass "Gelbe" und "Rote" gesehen, erkannt und die richtigen Maßnahmen gesetzt wurden. Aber es wird natürlich immer wieder Menschen geben, die keine Risikofaktoren aufweisen, die wir kennen. Oder deren Risikofaktoren so verdeckt sind, dass sie ein computerisiertes System nicht erkennen kann. Hier ist das persönliche Gespräch mit einem erfahrenen Fachmann erfolgreicher – aber auch der kann irren und scheitern.
Sehen Sie keinen Ausweg? Scheuen Sie sich nicht, Hilfe zu holen. Wo Sie diese finden:
Telefonseelsorge (bundesweit), 142, www.telefonseelsorge.at
Rat auf Draht (bundesweit, für Kinder und Jugendliche), 147, www.rataufdraht.orf.at
Vergiftungsinformationszentrale GÖG (bundesweit), 01 / 406 43 43, www.goeg.at/de/VIZ
Sozialpsychiatrischer Notdienst / PSD ( Wien), 01 / 313 30, www.psd-wien.at/psd
Krisentelefon (NÖ), 0800 / 20 20 16