Psychisch kranke Asylwerber: Verloren im Justizsystem
Von Lisa Wölfl
Terry A. wusste nicht, was er tut, als er im vergangenen Mai einen Mitbewohner in seiner Flüchtlingsunterkunft in Maria-Enzersdorf zu Tode prügelte. Das sagte sein Anwalt, das sagte der Staatsanwalt und der Gutachter. Zu diesem Schluss kamen Mitte Dezember im Landesgericht St. Pölten auch die Geschworenen.
Deswegen wurde der 25-jährige Asylwerber aus Nigeria nicht zu einer Strafe verurteilt, sondern in den Maßnahmenvollzug eingewiesen, wo er als nicht zurechnungsfähiger geistig abnormer Rechtsbrecher untergebracht ist. In seinem Fall herrschte seltene Einigkeit, seine paranoide Schizophrenie war derart ausgeprägt, dass wenig Zweifel bestand. Das Urteil ist bereits rechtskräftig.
Verzwickt ist die Sache trotzdem. Terry A. ist Asylwerber aus Nigeria. Vor Gericht gestand er, unter falschem Vorwand um Asyl angesucht zu haben. Niemand verfolgte ihn in seiner Heimat aus politischen oder religiösen Gründen. Vielmehr floh Terry A. vor Perspektivlosigkeit.
Sein Asylverfahren läuft weiter, Chancen auf einen positiven Bescheid hat er kaum. Doch auch eine Abschiebung ist unwahrscheinlich – obwohl, oder gerade weil er psychisch schwer krank und gefährlich ist, wird er bis auf Weiteres in Österreich bleiben.
Ein ungelöster Konflikt zwischen Straf- und Asylrecht in Österreich sorgt dafür, dass Menschen wie Terry A. auf unbestimmte Zeit in der Obhut des Staates bleiben – und selbst im unwahrscheinlichen Fall ihrer Entlassung kaum abgeschoben werden können.
In diesem Moment sitzen 962 Menschen auf unbestimmte Zeit im Maßnahmenvollzug. Wie viele davon Asylwerber sind, weiß niemand. Laut Schätzungen könnten rund 50 Personen betroffen sein, deren Asylverfahren noch läuft oder schon abgeschlossen ist.
Keine Entlassung ohne Nachbetreuung
Die Entlassung aus dem Maßnahmenvollzug läuft anders als aus dem normalen Strafvollzug. Es gibt keine fixe Zeit, die man absitzen muss. Bevor jemand wieder auf freien Fuß kommt, wird überprüft, ob er noch gefährlich ist. Außerdem muss der Staat für eine passende Nachbetreuung sorgen.
Solange nicht klar ist, ob ein Asylwerber in Österreich bleiben darf, kann diese nicht organisiert werden. Auch wenn der Insasse nicht mehr gefährlich ist, kann er ohne Nachbetreuungsplatz nicht aus dem Maßnahmenvollzug entlassen werden.
Erschwerend kommt hinzu, dass besonders Asylwerber kaum ein gesichertes soziales Umfeld haben - dabei wäre gerade das eine der Voraussetzungen für eine Entlassung.
Abschiebung fast nicht möglich
„Abgelehnte Asylwerber müssten eigentlich abgeschoben werden“, sagt Volksanwältin Gertrude Brinek, die sich für eine Reform des Maßnahmenvollzugs einsetzt, „Dies ist jedoch nur möglich, wenn man davon ausgehen kann, dass dort keine gravierend schlechteren Verhältnisse bestehen. Die Schwierigkeit liegt nun darin, zu überprüfen, ob die Nachbetreuung im Herkunftsland möglich ist und sie weiterbehandelt werden könnten.“
Am 14.12.2018 waren 962 Menschen im Maßnahmenvollzug untergebracht. Wie viele davon Asylwerber sind, wird laut Pressesprecherin des Justizministeriums nicht erhoben. Anfragen an die Anstaltsleiter direkt hat das Ministerium bisher nicht zugelassen. Dafür wird eine Statistik über die Nationalität der Insassen geführt. Diese liegt dem KURIER vor.
Am Freitag, dem 14.12., befanden sich elf Nigerianer, acht Afghanen, acht Iraker, fünf Staatenlose, vier Somalis, drei Iraner, drei Syrer, zwei Kenianer und ein Malier im Maßnahmenvollzug. Zusätzlich sind 13 Männer und eine Frau russischer Nationalität untergebracht. Darunter könnten auch Tschetschenen fallen, die formell ebenfalls die russische Staatsbürgerschaft haben. Demnach könnten bis zu 59 Menschen mit laufendem oder abgeschlossenem Asylverfahren im Maßnahmenvollzug untergebracht sein.
Wie viele Asylwerber nach der Entlassung in ihr Herkunftsland zurückgekehrt sind, weiß man weder im Innen- noch im Außenministerium. Die Internationale Organisation für Migration hat im laufenden Jahr zumindest zwei Personen bei ihrer freiwilligen Rückreise ins Herkunftsland unterstützt.
Der Verein Selbst- und Interessensvertretung zum Maßnahmenvollzug (SiM) zählt fünf Asylwerber zu ihren Klienten.
Markus Drechsler, Obmann von SiM, schätzt die Situation prekär ein. „Wenn Menschen mit ungeklärtem Asylstatus im Maßnahmenvollzug landen, haben sie viele Probleme. Der Großteil kann einer deutschsprachigen Therapie nicht folgen, Dolmetscher sind nicht in ausreichendem Maße verfügbar und eine bedingte Entlassung ohne Realbewährung ist faktisch unmöglich“, sagt er zum KURIER. Immerhin: In einem neuen Gesetzesentwurf zum Maßnahmenvollzug sind laut der Pressesprecherin des Justizministeriums, Alexandra Geyer Gesprächstherapien via Video angedacht.
Unterbringung und Aufenthaltsverbot
Ein älterer Fall zeigt, wie absurd die Probleme in der Praxis aussehen können. Der Somali M. reiste im Juni 2003 illegal nach Österreich ein und beantragte noch am selben Tag Asyl. Während das Asylverfahren lief, wurde M. krank. Trotz eines negativen Tests war er überzeugt davon, an Aids zu leiden. Seine Ärztin weigerte sich, ein Rezept für die eingebildete Krankheit auszustellen.
Beim nächsten Besuch attackierte M. seine Ärztin mit einem Messer und verletzte sie schwer. M. wurde als nicht zurechnungsfähig in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen. Während er untergebracht war, lief sein Asylverfahren weiter. 2006 erhielt er den negativen Asylbescheid. Gleichzeitig stellten die Behörden fest, dass eine Abschiebung nach Somalia aus Menschenrechtsgründen nicht zulässig sei. Sie erteilte M. eine Karte für subsidiär Schutzberechtigte.
Ein Jahr später sprach die zuständige Bezirkshauptmannschaft ein unbefristetes Aufenthaltsverbot aus, M. stelle eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar. Eine Ausreise oder Abschiebung war aber nicht möglich, weil M. immer noch in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher untergebracht war. Und weil bei seiner Entlassung die Nachbetreuung in Somalia sichergestellt sein müsste, ist eine Abschiebung fast unmöglich.
Ob sich M. noch in Österreich befindet, weiß selbst sein Anwalt Edward Daigneault nicht. An der Rechtslage hat sich jedoch auch zehn Jahre später nichts geändert.
Das lange Warten auf eine Reform
Seit 2015 Fotos von dem verfaulten Fuß eines Insassen in der Justizanstalt Stein an die Öffentlichkeit gelangten, diskutieren Politiker und Expertinnen über den Maßnahmenvollzug. Die Probleme sind vielfältig: Schlechte Gutachten, zu wenig Geld in den Anstalten, mangelnde Möglichkeiten zur Nachbetreuung. Eine Reform versprach schon der ehemalige Justizminister Wolfgang Brandstetter und legte im Sommer 2017 einen Entwurf vor. Passiert ist seither nichts.
Bundesminister Josef Moser (ÖVP) versprach in einer Presseaussendung einen Gesetzesentwurf bis Ende des Jahres. Eine Fassung ist laut Pressesprecherin Geyer schon fertig. Die „Feinabstimmung“ werde nun gemeinsam mit Interessensvertretungen und Experten gemacht.