Mimikry und Mimese: Neue Kostüme für den Karneval der Tiere
Von Hedwig Derka
Im Regenwaldhaus des Tiergarten Schönbrunn ging es acht Tage lang bunter zu als sonst. Susanne Stückler von der Universität Wien legte jeden Morgen 80 Wallace-Flugfrosch-Modelle in verschiedenen Farben aus. Die Attrappen von Rhacophorus nigropalmatus waren rot, rot mit weißen Tupfen und grün; auch weiße Wachs-Amphibien zur Kontrolle waren dabei.
Die Verhaltensbiologin wollte testen, welche Färbung den Appetit der gefiederten Mitbewohner besonders anregte und welche Koloration die Vögel kalt ließ. Tatsächlich starten Wallace-Flugfrösche rot mit weißen Punkten ins Leben, ausgewachsen segeln sie smaragdgrün durch die Baumkronen. „Die Jungfrösche bauen wohl darauf, dass sie zwar gesehen, aber für etwas Ungenießbares gehalten werden“, schloss Stückler kürzlich aus ihren Auswertungen. In den rauen Kinderstuben der unteren Vegetationsetagen geben sie vor, stinknormaler Kot zu sein.
„Es ist erstaunlich, wie viele Tier- und Pflanzenarten täuschen. Mimikry und Mimese ziehen sich durch sehr viele Gruppen und durch alle Lebensbereiche“, sagt Andreas Wanninger. Der stv. Leiter des Departments für Evolutionsbiologie an der Uni Wien kennt die raffinierten Tricks, mit denen Spezies zu bestehen versuchen. Kostümiert wollen sie mehr Nachkommen produzieren, sich vor Feinden schützen oder Beute anlocken. Der Selektionsdruck ist alles andere als Fasching.
Maskerade
„Oktopusse sind extrem flexibel“, hebt Wanninger den Star unter den Verwandlungskünstlern hervor. Der Gewöhnliche Tintenfisch ändert nicht nur sein Äußeres blitzschnell durch wilden Farbwechsel – Hormone machen es möglich –, er kann sich auch in der Form anpassen und – außergewöhnlich – sein Verhalten ändern, indem er z.B. wie eine giftige Seeschlange schwimmt. Die ausgereiften Täuschungsmanöver bringen der Intelligenzbestie der Meere beachtliche Vorteile im täglichen Kampf ums Überleben ein.
Doch nicht nur unter Wasser tanzt der Karneval. Im Vorjahr entdeckten brasilianische Forscher in Australien ein neues Kostüm. Der Kurzflügelkäfer Austrospirachtha carrijoi geht als Termite. Dafür vergrößert er seinen Körper samt Pseudo-Antennen und -Beinchen. Der echte, viel kleinere Kopf des Käfers lugt kaum sichtbar unter der Verkleidung hervor. Vermutet wird, dass es der Winzling satt hat, selbst Nahrung zu suchen. Er frisst vielmehr, was ihm die genarrten Termiten vorverdaut füttern.
„Ein wesentlicher Faktor der Evolution ist der Zufall. Entweder es setzt sich durch oder nicht. Mimikry und Mimese beruht nicht auf Verwandtschaft“, sagt Wanninger und verweist auf die Korallenotter, die von Nord- bis Südamerika ihre Beute mit einem toxischen Biss lähmt. Die harmlose Königsnatter im Partnerlook profitiert ebendort vom abschreckenden Aussehen ihres optischen Zwillings; sie selbst ist immun gegen Schlangengift.
Anders verlief die Entwicklung bei giftigen Schmetterlingen der Gattung „Heliconius“. Tiroler Forscher fanden 2020 heraus, dass der Große Kurier und der Kleine Kurier einen gemeinsamen Vorfahren hatten. Heute sind beide Arten genetisch völlig unterschiedlich. Nur im Flügelmuster tragen sie regional dieselbe Maskerade. Bei Bedarf ziehen sich stets gemeinsam um, um Vögel in neuer Mode zu verwirren.
„Der Mechanismus hinter Mimikry und Mimese ist Co-Evolution“, sagt Wanninger. Ob Falter und Federvieh oder Blüte und Bestäuber, einer hinkt immer hinterher. So müssen Kostüme laufend umgeschneidert werden. Der Faschingsumzug bleibt bunt.