Leben als Flüchtling: Das Warten als Feind
Von Nihad Amara
Hab keine Angst. Du bist hier sicher", erklärte die Polizistin auf Englisch. Sayeds Angst vor Uniformierten war in diesem Moment verflogen. Die Sonne war soeben aufgegangen. Der junge Afghane, damals 15 Jahre alt, saß im Gras, irgendwo im burgenländischen Grenzgebiet. Seine Beine schmerzten. Er hatte eine sieben Monate lange Flucht hinter sich. Und er bat die Polizistin um eine Antwort: "Wo bin ich?"
Das war vor 17 Monaten. Sayed spricht nun fließend Deutsch und lernt für seinen Hauptschulabschluss. "Wenn man etwas erreichen will, schafft man das auch." Der 17-Jährige klingt so, als wolle er den amerikanischen Traum leben. Freilich in einem kleineren Maßstab: Er träumt nicht vom Millionärsdasein, sondern von einer Kfz-Lehre. Nur ist er nicht in Übersee gelandet, sondern "in Austria", wie es ihm damals die Polizistin übersetzte.
Ein Tellerwäscher scheint es einfacher zu haben als ein hochtalentiertes Flüchtlingskind in Österreich. Die Geschichte von Sayed zeigt, wie schwer sich Politik und Behörden im Umgang mit jungen Flüchtlingen tun. Und wie der Traum eines ehrgeizigen Burschen an starren Regeln zu platzen droht.
Weggeschickt
Sayed hat alles hinter sich gelassen: Seine Familie, Freunde, seine Heimat in der Provinz Parwan, in der er nicht sicher war. Sein Vater starb dort. Hingerichtet mit einem Kopfschuss, weil er es gewagt hatte, Amerikaner durch die Gegend zu chauffieren. Sayed hat für die US-Soldaten Englisch gelernt und dolmetschte für sie. "Auch du bist in Gefahr. Du kannst hier nicht bleiben", sagte ihm seine Mutter. Da war die Reise nach Europa schon organisiert.
Im Vorjahr stellten 1187 minderjährige Flüchtlinge, die alleine hier ankamen, einen Asylantrag. Die Flüchtlingsorganisation UNHCR hielt in einer Studie fest, was sie dazu trieb: die "Gewaltsituation", "Missbrauch" und "Bedrohung" fallen darunter.
Ihre Situation hat sich in Österreich seit 2004 verbessert: Es gibt seitdem eine separate Unterbringung. Doch im Vergleich zu heimischen Kindern und Jugendlichen, um die sich die Jugendwohlfahrt kümmert, sind sie benachteiligt. Von "halben Kindern" sprechen Kritiker angesichts der Schieflage zynisch: 77 Euro gibt der Staat für junge Flüchtlinge pro Tag aus; die Stadt Wien benötigt 130 bis 400 Euro, um Kinder und Jugendliche ausreichend betreuen zu können.
Der 15-Jährige zog von der Erstaufnahmestelle in Traiskirchen in die Wohngemeinschaft Nuri der Caritas in Wien-Penzing. Seitdem bestimmen zwei Dinge sein Leben: Lernen für seinen Traum von der Kfz-Lehre und warten, bis sich die Behörde bei ihm meldet.
Deutsch lernen ist für den 17-Jährigen der Schlüssel. "Wenn man hier lebt, muss man die Sprache sprechen." Der Satz könnte von Sebastian Kurz stammen. "Integration durch Leistung" heißt das Leitmotiv des Integrationsstaatssekretärs. Nur funktioniert es im Fall von Sayed nicht. Der strebsame Bursche wartet seit 17 Monaten auf die erste Einvernahme durch die Asylbehörde, die die Basis für das Verfahren ist.
"Noch hat niemand mit mir gesprochen", klagt er verbittert. Nicht nur Sayed ist in der Warteschleife. In der Wohngemeinschaft Nuri warten von 15 Jugendlichen neun seit eineinhalb Jahren.
"Extrem belastend"
Klaus Schwertner, Geschäftsführer der Caritas Wien, nennt es "eine problematische Situation". Das Bemühen des Innenministeriums, die Verfahren zu beschleunigen, sei bei Jugendlichen nicht erkennbar. "Für die Jugendlichen ist das extrem belastend." Oft langt die Ladung erst ein, wenn sie erwachsen sind. Sie fallen dann über Nacht aus der besseren Betreuung und sind vom Jobmarkt ausgeschlossen. Schwertner erinnert daran, dass der "Generalverdacht gegenüber Asylbewerbern auch vor Kindern nicht haltmacht. Ihnen wird oft pauschal vorgeworfen, dass sie nur flüchten, um ihre Familie nachzuholen."
Daten zur durchschnittlichen Verfahrensdauer bei jungen Flüchtlingen liegen zum Jahresende vor. Das Innenministerium begründet längere Verfahren mit der Altersbegutachtung, die im Zweifelsfall durchgeführt wird. Im Vorjahr seien 359 Personen untersucht und "in 73 Prozent der Fälle die behauptete Minderjährigkeit widerlegt worden". Sayed erfuhr nachträglich, warum er sich nackt ausziehen musste, sein Gebiss und sein Handwurzelknochen geröntgt worden waren. Er erzählt es so, als ob es eine Prüfung gewesen wäre. "Ich war der Einzige von 15, der das geschafft hat."
Treffgenauigkeit?
An den Methoden stoßen sich nicht nur Flüchtlingshelfer, sondern auch Experten. "Abgesehen von der ethischen Vertretbarkeit gibt es Probleme mit der Treffgenauigkeit", sagt Herbert Langthaler von der Asylkoordination. Eine Studie der Unis Zürich und Graz hielt im Juni 2011 fest, dass es bei Personen aus dem kaukasischen Raum zu einer Altersüberschätzung kam – und sie irrtümlich für volljährig erklärt wurden.
Sayed war kurz seinem Traum ziemlich nahe. Der Bursche sprach bei einem Besitzer einer Kfz-Werkstatt vor. "Ich will körperlich arbeiten", erklärte er dem Chef, der ihm als Bedingung für eine Zusage einen "positiven Asylbescheid" nannte. Doch selbst der wird nicht reichen, denn er erhält die Stelle nur, wenn es einen Lehrlingsmangel gibt. Und der besteht in der Sparte nicht.
Sayed erzählt vom Auftritt bei einem Caritas-Event im Volkstheater. Er stand auf der Bühne, eine Frau stellte eine komische Frage. Ob er wie in Afghanistan auch hier Feinde habe. Er antwortete ihr: "Das Warten ist mein Feind."