Chronik/Österreich

Hat Österreich ein Tschetschenen-Problem?

Ob der tschetschenische Asylantragsteller Mucharbek T., 28, tatsächlich im syrischen Bürgerkrieg Menschen ermordet hat, wird nach Vertagung des Grazer Dschihadistenprozesses frühestens in einem halben Jahr feststehen. Er ist nicht der einzige Tschetschene in Österreich, der den Sicherheitsbehörden Sorgen bereitet.

Die Auffälligkeiten der jüngeren Zeit: Massenschlägereien mit Tschetschenen in Linz, Wien, Graz, Mauthausen, St. Pölten und Salzburg. Gleichzeitig dominierten tschetschenische Angeklagte die jüngsten Dschihadistenprozesse in Krems, Wien und Graz. Erst gestern Dienstag, wurde in Wien eine 18-Jährige, die im Juli 2014 nach Syrien reisen wollte, um dort einen IS-Kämpfer zu heiraten, zu sechs Monaten bedingt verurteilt.

Bürger der Russischen Föderation

Sind die österreichischen Tschetschenen stärker "delinquent" als andere Ethnien – etwa aus Ex-Jugoslawien oder der Türkei? Diese Frage ist über die Kriminalstatistik nicht zu klären. Denn dort werden Tschetschenen als Bürger der Russischen Föderation ausgewiesen. Nur ein Parameter gibt einen Hinweis: Von 3111 tatverdächtigen "Russen" im Jahr 2014 sind 1470 Asylwerber. Nachdem es sich aber bei russischen Asylwerbern fast ausschließlich um Tschetschenen handelt, bildet diese Gruppe fast die Hälfte.

Aber auch erfahrene Kriminalisten, die diese Fälle unmittelbar bearbeiten, können die Frage nach der kriminellen Energie nicht schlüssig beantworten. Nur eines scheint sicher: Tschetschenische Straftäter sind auffälliger als andere. Bei tschetschenischen Jugendlichen steht nach den Erfahrungen der Kriminalisten übertriebener Nationalstolz gepaart mit Hang zu Körperkult und Kampfsport im Vordergrund. Außerdem legen tschetschenische Jugendgangs besonderen Wert darauf, ihre "Territorien" zu kontrollieren. Dahinter wird auch der Grund für die Bandenkriege vermutet.

Schwerpunkte der tschetschenischen Jugendszene in Wien wurden bei der Lugner-City, dem Millenium-Tower, der Donauinsel und dem Gasometer ausgemacht. Dort werden sie immer mehr zum öffentlichen Ärgernis. Der Wiener Vizepolizeichef, General Karl Mahrer: "Für die Bekämpfung der Bandenkriminalität haben wir im Landeskriminalamt Wien sogar eine eigene Einheit geschaffen, die sehr erfolgreich tätig ist."

Anfälliger für Terror-Rekrutierungen?

Einen besseren Überblick gibt es über terroristische Aktivitäten. Von den 260 Personen, die in Österreich als islamistisch-terrorverdächtig eingestuft werden, rechnet der Verfassungsschutz mehr als die Hälfte dem tschetschenischen Lager zu. Diese Anfälligkeit erklären Verfassungsschützer aus dem Konflikt in der Heimat. Die tschetschenische Terrorgruppe "Emirat Kaukasus" und der Islamische Staat (IS) haben ihre Zusammenarbeit proklamiert. Besorgte Tschetschenen vermuten, dass manche junge Männer versuchen, ihre Eltern auf den Schlachtfeldern Syriens für die Niederlage in der Heimat zu "rehabilitieren".

Unübersehbar ist jedenfalls ein Generationenkonflikt. Besorgte Ältere versuchen, der Radikalisierung der Jugend entgegenzusteuern. Der Rat der Tschetschenen und Inguschen will Eltern unterstützen, mit ihrer Autorität die Jugendlichen von der Radikalisierung abzuhalten. Doch in der Diaspora scheint die klassische Autorität der Alten abhandenzukommen. Zwar bräuchte nach alter Tradition ein junger Mann, der in den Krieg ziehen will, die Erlaubnis seiner Eltern. Doch in den meisten Fällen kommt nur mehr eine formlose SMS: "Bin im Irak."

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Die Spuren des Innenministers Ernst Strasser (Februar 2000 bis Dezember 2004) reichen bis in die Gegenwart. Eine davon ist die tschetschenische Exilgemeinde mit 30.000 Mitgliedern. Sie ist die größte in Europa.

Im Jahr 2003 tobte der zweite Tschetschenien-Krieg. Gleichzeitig war Strasser mit seiner Polizeireform beschäftigt. Die Eckdaten: Aufhebung des Visumzwanges für bestimmte Oststaaten, gleichzeitige Auflösung von Gendarmerieposten. Auch bei der Fremdenpolizei wurde Personal reduziert.

In dieser Phase traf die tschetschenische Fluchtwelle auf eine geschwächte Fremdenpolizei. "Wir konnten den Aktenberg nur bewältigen, weil wir in großem Umfang positive Bescheide ausgestellt haben," erzählte ein damaliger Fremdenpolizist dem KURIER.

Im Jahr 2003 wurden 6706 tschetschenische Asylansuchen bearbeitet. Die Anerkennungsrate lag bei 77 Prozent. Es war ein absoluter Spitzenwert. Diese Quote lag weit über dem EU-Durchschnitt und erwies sich als ein entsprechender "Pull-Effekt".

Fluchtgründe

Trotz der unbestrittenen kriegerischen Ereignisse in Tschetschenien hatte nicht jeder Tschetschene einen anerkennenswerten Asylgrund. Beispielsweise jener, der wegen eines Syrien-Einsatzes vom Landesgericht Krems zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Dem Gericht schilderte er freimütig seine "Fluchtgründe": Er hoffte, in Österreich durch eine Spezialoperation von einem Augenleiden befreit zu werden.

Beobachter und Polizisten wundern sich auch, wenn angeblich politisch verfolgte Tschetschenen lustige Selfies von Heimatbesuchen in Grosny posten.

In Deutschland haben Tschetschenen derzeit fast keine Chance auf Asyl. Aber auch in Österreich ist die Asylpraxis wesentlich restriktiver geworden. Die Anerkennungsquote bei Tschetschenen liegt jetzt nur mehr bei knapp 20 Prozent.