Kremsmünster-Zögling Girtler: "Wir haben sicher viel gelitten"
Er ist bekannt als „vagabundierender Soziologe“, der sich am Rand der Gesellschaft seine Forschungsobjekte sucht: Roland Girtler, 71. Im Gespräch mit dem KURIER gewährt er Einblicke in seine Zeit als Schüler (1951 bis 1959) im Internat Kremsmünster (OÖ).
KURIER: Herr Girtler, Sie waren acht Jahre lang im Benediktiner-Internat Kremsmünster.
Roland Girtler: Wenn Sie von mir Horrorgeschichten hören wollen, bin ich der Falsche.
Ich würde gerne hören, wie es Ihnen dort ergangen ist.
Die erste Klasse – mit zehn Jahren bin ich von den Eltern weggekommen. Wissen Sie, das war furchtbar. Auch im Schlafsaal war es furchtbar. 40 in einem Zimmer, einige waren Bettnässer. Ich habe aber auch von Leuten gehört, die an dem Ganzen zerbrochen sind. Von Vergewaltigungen hat man zu meiner Zeit nichts gehört.
Kann man das Internat mit Kinderheimen vergleichen?
Es hat Strafen gegeben. Watschen, Stockschläge. Ein Pfarrer hat sich sogar entschuldigt, wenn er Watschen ausgeteilt hat. In den Kinderheimen war es sicher schlimmer. Das waren ja Zwangsanstalten. Wir konnten wenigstens raus, die Eltern besuchen.
Sie erinnern sich dennoch gerne an die Zeit zurück?
Naja, wir haben sicher viel gelitten. Gewalt ist sicher da gewesen. Es gab Lehrer, die konnten hemmungslos sein. Aber damals war Gewalt ein anerkanntes Erziehungsmittel. Das wäre heute unvorstellbar. Aber ich will nicht schimpfen. Es gab auch schöne Dinge. Kameradschaft ist entstanden, man musste zusammenhalten. Und in schwierigen Situationen hilft immer eines: Humor. Man musste ja überleben.
Als Sohn von Ärzten kamen Sie ins Internat. In Heimen waren meist Kinder aus unteren sozialen Schichten.
Die wurden schon vor Jahrhunderten definiert. Schon im 17. Jahrhundert – und dann unter Maria Theresia – wurden den Zigeunern, den Gaunern und auch den Evangelischen die Kinder weggenommen. Dieses Denken ist noch da.
Viele rutschten nach dem Kinderheim in die Halbwelt ab.
Ich habe ein Buch über den Gauner Pepi Taschner geschrieben (Der Adler und die drei Punkte, Verlag Böhlau). Er war ein uneheliches Kind und kam auch in ein Heim. Dort war eine unheimliche Brutalität. Die Erzieher in diesem Heim waren Sadisten. Durch das Heim ist auch Taschner in die Kriminalität gekommen. Im Heim hat er gelernt, wie man sich durch Gewalt Ansehen und Anerkennung erwirbt. Liebe und Trost hat es für die Kinder nicht gegeben.
Das Resümee Ihrer Internatszeit?
Ich möchte die Zeit nicht missen (denkt kurz nach) – aber auch nicht wiederholen.
Missbrauch: Von Irland bis Oberösterreich
Der irische Premierminister Enda Kenny entschuldigte sich am Dienstag öffentlich für jahrzehntelanges Unrecht an Mädchen und jungen Frauen: Bis in die 90er-Jahre mussten Mädchen in katholischen Wäschereien, den „Magdalene Laundries“, unbezahlte Arbeit leisten. „Sklavenarbeit“, wie Zeitzeuginnen der Daily Mail berichten.
Den noch lebenden Zwangsarbeiterinnen ist die formelle Entschuldigung des Regierungschefs zu wenig. Sie fordern von Regierung und Kirche ein volles Eingeständnis der Schuld.
In Österreich hat sich der Bundeskanzler zu den Vorfällen in Kinderheimen und Internaten noch nicht explizit geäußert, aber es sind hierzulande mehrere katholische Einrichtungen im Visier der Justiz.
Noch diese oder Anfang nächster Woche, könnte ein Strafverfahren gegen Pater A., den ehemaligen Erzieher im oberösterreichischen Stiftsinternat Kremsmünster, eingeleitet werden. Mehrere ehemalige Zöglinge werfen ihm unter anderem „exzessive Gewalt“ und sexuellen Missbrauch vor.
Ein Zivilverfahren läuft indes bereits gegen einen ehemaligen Pater des Stiftsinternats Mehrerau (Vorarlberg). Ihm wird von zwei Ex-Schülern unter anderem sexueller Missbrauch vorgeworfen. Das Landesgericht Feldkirch hat den Taten keine Verjährung zuerkannt (der KURIER berichtete). Das Stift wird vermutlich gegen diese Entscheidung berufen. Dann wäre das Oberlandesgericht Innsbruck am Zug.