In der Psychiatrie gedroht: 16-Jährige muss ins Gefängnis
Von Thomas Trescher
Caro L. steht in einem Scherbenhaufen. In der Hand hat sie eine Schere, in den Augen den Zorn. „Dich steche ich ab“, ruft sie einer Betreuerin zu, die in die Teeküche der Linzer Landesnervenklinik Wagner-Jauregg eilt, weil sie zerberstenes Geschirr hört. Da hatte sie schon mit einem Sessel nach einem weiteren Betreuer geworfen und versucht, den Brandalarm auszulösen. Die herbeieilende Ärztin verständigt die Polizei, während Caro L. (Name geändert) weiter klirrend Gläser zu Scherben verarbeitet. Über eine Gegensprechanlage kündigt sie einmal mehr an, alle umzubringen. Caro L. ist in einem Zustand „massiver Anspannung“, wie die Ärztin später zu Protokoll gibt. Von den eintreffenden Polizisten lässt sie sich dennoch widerstandslos zu einem Fixierbett geleiten, zur ihrer Ärztin sagt sie mehrmals: „Ich möchte nicht fixiert werden, ich möchte keine Infusion, ich werde dich umbringen. Ich möchte nicht fixiert werden, ich möchte keine Infusion, ich werde dich umbringen.“
Eine 16-Jährige als geistig abnorme Straftäterin
Der Scherbenhaufen, in dem Caro L. steht, ist ihr Leben. Sie ist 16 Jahre alt, hat mehr als vierzig Aufenthalte in der Psychiatrie hinter sich, und heute um 10.00 Uhr wurde sie wegen des Vorfalls in der Psychiatrie, der sich am 20. Oktober des Vorjahres zugetragen hat, in das Frauengefängnis Schwarzau überstellt, wo sie als geistig abnorme Rechtsbrecherin theoretisch unbegrenzt eingesperrt werden kann. Am 29. April 2016 wurde sie wegen des Vorfalls in der Landesnervenklinik zu vier Monaten Haft wegen Sachbeschädigung und gefährlicher Drohung sowie zur Einweisung in eine Strafanstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher verurteilt.
„Ich habe keine Ahnung, wie das dort ablaufen wird“, erzählt Caros Mutter Martina L., auch sie heißt eigentlich anders. Zweimal pro Woche konnte sie ihre Tochter in der forensischen Abteilung des Kepler Universitätsklinikums besuchen und durch eine Glasscheibe mit ihr reden. „Derzeit ist sie recht stabil“, sagt sie. Wenn sie Caros Geschichte erzählt, sind die Eckpunkte, an denen sie sich festhält, jene Begebenheiten, bei denen wieder etwas passiert ist. Da, wo sie die Schule wechseln musste. Da, wo sie zum ersten Mal weggelaufen ist. Da, wo sie drohte, sich umzubringen. Da, wo sie begann, sich selbst zu verletzen. Da, wo sie zum ersten Mal vor Gericht stand. Caros Leben setzt sich aus Vorfällen zusammen, nicht aus Erlebnissen.
Ein „verwahrlostes und unterernährtes“ Kind
Ein bisschen über fünfzehn Jahre ist es her, da adoptierten Martina L. und ihr damaliger Mann ein, wie sie sagt, „verwahrlostes und unterernährtes“, acht Monate altes Kind aus Äthiopien, das fünf Tage nach seiner Geburt von seiner Mutter weggelegt wurde. Worunter Caro bis heute leidet, erzählt die Mutter. Wenig später ging Martinas Ehe in die Brüche, seit deren zweitem Lebensjahr erzieht sie das Mädchen alleine. Es ist keine leichte Aufgabe: Caro L. hat eine Intelligenzminderung, sie hört nur zu vierzig Prozent, nach ihrer Einschulung wurde sie wegen Überforderung wieder zurück in die Vorschule gestuft.
Aber die echten Probleme fingen an, als Martina L. nach einer Borreliose für eine kurze Zeit nicht mehr gehen konnte. „Da war sie zehn Jahre alt und hatte Angst, dass ihre Mutter stirbt“, erzählt sie. Zu diesem Zeitpunkt fing das Weglaufen an. „Zuerst im Ort und dann immer weiter“, sagt Martina L., „sie war immer auf der Flucht“. Mit dreizehn Jahren landete sie zum ersten Mal auf der Psychiatrie – weil sie sich selbst einwies. Ihre Mutter vermutet, „dass sie damit ihre eigene Weglegung symbolisch nachspielte“. Laut Gutachten versuchte sie ihr Bett in Brand zu stecken; innerhalb von zehn Tagen war sie vier Mal in der Psychiatrie.
Laut dem Gerichtsgutachten, das Psychiaterin Heidi Kastner erstellte, wurde sie bereits damals als „antisozial und affektlabil ohne Akzeptanz für Grenzen“ beschrieben. Sie war in der Folge dutzende Male in der Psychiatrie, lebte eine Zeitlang in einer betreuten WG. Aber die Situation wurde nicht besser, höchstens schlimmer. Die Einrichtungen, schreibt Kastner in ihrem Gutachten, waren „nicht in der Lage (…) pädagogisch sinnvoll auf sie einzuwirken“. Immer wieder lief sie weg, immer wieder drohte sie, immer wieder entwendete sie Messer. Nur wenige Tage vor dem Vorfall in der Psychiatrie stand sie das erste Mal vor Gericht und wurde wegen gefährlicher Drohung zu drei Monaten bedingt verurteilt, weil sie mit einem Brotmesser in der Hand zwei Personen mit dem Abstechen bedroht hatte.
Haft wäre laut Gutachterin "kontraproduktiv"
Keine Frage, Caro L. ist ein schwieriges Kind, ein schwieriger Patient, ein schwieriger Mensch. Die Diagnose einer dissozialen Persönlichkeitsstörung, die ihr mit zwölf Jahren gestellt wurde, sei „extrem ungewöhnlich in dem Alter“, sagte Gutachterin Kastner während des Prozesses gegen Caro L. Aber ist der Maßnahmenvollzug, die potentiell lebenslängliche Einweisung, die schärfste Sanktion, die das Strafrecht kennt, wirklich die adäquate Lösung für ein 16-jähriges Mädchen mit einem Intelligenzquotienten weit unter dem Durchschnitt? Am Ende ihres Statements bei Caros Prozess im April sagte Gutachterin Kastner jedenfalls: „Zu ergänzen bleibt noch, dass eine Verbringung in die Haft (…) kontraproduktiv wäre.“ Die Richterin entschied anders.
„Wenn wir von so schwer betreubaren Jugendlichen sprechen, ist weder eine Psychiatrie noch das Gefängnis der richtige Ort, sondern eine entsprechende sozialpädagogische Einrichtung“, sagt Psychiaterin Gabriele Wörgötter. Bloß: Die gibt es eigentlich nicht. „Solche Jugendliche bräuchten ein ganz strenges Setting, wo sie sich einer Betreuung nicht entziehen können“, sagt sie. Eine engmaschige Betreuung kostet viel Geld, und genau das fehlt. Dazu kommt, dass die Lage der Kinder- und Jugendpsychiatrie in ganz Österreich selbst schon eine fatale ist: „Es gibt viel zu wenige niedergelassene Ärzte, auch im stationären Bereich fehlt es an Betreuung“, sagt Wörgötter.
"Grobe System-Missstände"
Und die Jugendlichen mit zum Teil schweren psychischen Problemen kommen fast zwangsläufig irgendwann mit dem Gesetz in Konflikt; manchmal - wie in Caros Fall - sogar in der Psychiatrie. „Es kommt in den vergangenen Jahren immer häufiger vor, dass Ärzte und Pfleger solche Fälle anzeigen, weil sie von den Krankenhausträgern dazu angehalten werden“, sagt Wörgötter. Mit der Konsequenz, dass diese Jugendlichen von der Psychiatrie ins Gefängnis übersiedeln.
„Es ist absolut unvertretbar, die Versäumnisse der Jugendpsychiatrie in den Maßnahmenvollzug zu delegieren“, sagt Markus Drechsler, Obmann des Vereins „Selbst- und Interessenvertretung zum Maßnahmenvollzug“. „Das Schicksal von Caro zeigt zwei grobe System-Missstände auf. Erstens sollten Jugendliche und junge Erwachsene nicht in den Maßnahmenvollzug kommen, sondern endlich passende Betreuungseinrichtungen geschaffen werden. Und zweitens sollte der Strafrahmen zur Einweisung von ein auf drei Jahre angehoben werden, damit Vergehen wie gefährliche Drohung und Sachbeschädigung nicht zur Einweisung führen können.“
Forderungen, die auch eine Expertengruppe erhob, die Anfang 2015 ein Reformpapier zum Maßnahmenvollzug vorlegte. Im Herbst, heißt es aus dem Justizministerium, will Wolfgang Brandstetter seine Pläne zu einer Reform des Maßnahmenvollzugs vorlegen. Für Caro L. kommen sie auf jeden Fall zu spät, sie sitzt nun im Gefängnis. Dass man ihr dort wirklich helfen wird können, glaubt Psychiaterin Wörgötter nicht: „Die Probleme im Maßnahmenvollzug sind dieselben wie in der Psychiatrie: Es gibt einen Personalmangel und damit viel zu wenig Betreuung.“