Fünfjähriger Bub bei Justiz angezeigt
Zwei fünfjährige Buben streiten in der Sandkiste um ein Spielzeug. Der eine Bub schubst den anderen. Der andere schubst zurück. Schließlich stößt sich einer den Kopf an der Kante der Sandkiste. Kann passieren, bei Kindern in diesem Alter – sollte man meinen. Dieser Fall allerdings landete auf dem Schreibtisch von Familienrichterin Doris Täubel-Weinreich. Die Eltern der beiden Kinder riefen nach dem Vorfall in der Sandkiste die Polizei, die musste die Anzeige gegen einen der Fünfjährigen dann aufnehmen.
Das ist der skurrilste in einer Reihe von Fällen, in denen strafunmündige Kinder (also jene unter 14 Jahren) bei der Polizei gemeldet werden. „Es ist zu beobachten, dass vermehrt Unfälle angezeigt werden, die eigentlich zum Erwachsenwerden dazugehören“, sagt die Familienrichterin.
Wenn ein Schulkamerad dem anderen den Sessel wegzieht, und der sich einen Zahn ausschlägt, sei das vor einigen Jahren noch nicht angezeigt worden, in letzter Zeit zunehmend schon. „Wenn man die alle in eine Strafkartei aufnimmt, wäre das aber auch nicht Sinn der Sache“, sagt Täubel-Weinreich.
5907 Fälle
Grundsätzlich landen die Anzeigen gegen Kinder, die jünger als 14 Jahre sind, vor dem Pflegschaftsgericht. 2015 waren das 5907 Fälle. Der jüngste ereignete sich am Montag im Wiener Stadtpark. Vier Burschen nahmen einem Zwölfjährigen, der auf Pokémonjagd war, das Handy ab. Drei von ihnen waren unter 14 Jahren alt.
Die Staatsanwaltschaften reichen solche Akten umgehend an die Familiengerichte weiter.
Die Richter dort entscheiden dann, was getan werden muss. Bei kleineren Delikten wird der Akt „eingelegt“, also einfach ignoriert. Bei größeren Delikten wird das Jugendamt informiert, um zu überprüfen, ob ein Erziehungsproblem vorliegt. Oft seien die Eltern aber überfordert. „Da gehört mehr gemacht“, sagt Täubel-Weinreich. Etwa mit aufsuchender Sozialarbeit. „Die Probleme beginnen oft schon bei Kindern im Alter von acht oder neun Jahren.“
Wer 14 oder älter ist, der bekommt – wenn er vorher unauffällig war – eine Belehrung vom Staatsanwalt. Nach dem Motto: „Wenn du das noch einmal machst, wirst du bestraft“. Von einer strafrechtlichen Verfolgung wird dann abgesehen. Ansonsten kommt es zu einer Diversion oder – im strengsten Fall – zu einem Strafprozess.
Nikolaus Tsekas vom Bewährungshilfeverein Neustart berichtet von Erfolgen durch die Sozialnetzkonferenz für jugendliche Straftäter: Ein soziales privates Netzwerk aus Familie, Freunden, Lehrern schmiedet gemeinsam mit Sozialarbeitern einen Zukunftsplan für den Delinquenten und erspart ihm (und – finanziell gesehen – dem Staat) das Gefängnis. Tsekas schlägt vor (siehe auch Interview rechts), das Modell auf Zehn- bis 14-Jährige auszuweiten: „Es ist das ideale Instrument dafür.“
Familienrat
In Deutschland wurde die Methode bereits von der Jugendwohlfahrt übernommen. Man hält eine sogenannte Family Group Conference, einen Familienrat, ab, wenn ein Kind strafrechtlich verhaltensauffällig wird und diskutiert Maßnahmen zur Unterstützung.
Sozialarbeiter Tsekas meint, dass das Ausloten von Grenzen – „die klassische Mutprobe“ – aber zum Erwachsenwerden dazu gehört und nicht immer gleich nach dem Strafrichter schreit.
In Sachen Sandkiste sah das Pflegschaftsgericht übrigens keinen Handlungsbedarf. „Ein Streit um ein Spielzeug ist keine kriminelle Tat“, sagt Richterin Doris Täubel-Weinreich.
KURIER: Werden die Kids immer krimineller?
Nikolaus Tsekas: Nein, bei Verurteilungen von Jugendlichen gibt es einen Rückgang. Aber das Anzeigeverhalten hat zugenommen, der Ruf nach der Verantwortung des Staates. Früher wurde vieles ohne Polizei geregelt. Wenn wir in unserer Jugend beim Greißler was gefladert haben und erwischt wurden, mussten wir Regale schlichten und damit war es erledigt.
Und was passiert mit Unmündigen, wenn sie schlimmere Delikte setzen, zum Beispiel ein Handy rauben?
Unter 14 Jahren gibt es keine Angebote. Wenn die Familie des Jugendlichen nicht schon auffällig war, wird das ignoriert. Es wird aber dann miteinbezogen, wenn der knapp nach dem 14. Geburtstag vor Gericht kommt. Wurde er als 13-Jähriger schon ein paar Mal erwischt, bekommt er dann gleich eine relativ strenge Strafe.
Aber das darf der Richter doch gar nicht werten, weil der Jugendliche mit 13 ja noch gar nicht strafmündig war?
Das wird dann mit Spezialprävention begründet, dass hier höhere Strafen nötig sind.
Was ist der Ausweg?
Nicht abwarten, bis der 14 ist, und ihn dann eintunken. Es muss zwischen zehn und 14 vernünftige Reaktionen geben.
Kriminelles Verhalten von Strafunmündigen wird in den sogenannten Jugenderhebungen festgehalten. Die Familienrichter können das Jugendamt einschalten und die Eltern zu Erziehungsschulungen schicken bzw. ihnen im Ernstfall das Sorgerecht entziehen.
Ab 14Die strafrechtliche Reaktion beginnt bei der Diversion, die nicht im Strafregister (Leumund) aufscheint. Unterste Stufe ist die Festsetzung einer Probezeit (in Verbindung mit der Weisung zu einer Therapie) von ein bis zwei Jahren, in denen der Jugendliche unter Beobachtung steht. Daneben gibt es Tatausgleich mit dem Opfer, gemeinnützige Leistungen, Geldbuße. Dann folgen Geld- und Haftstrafen.