Das Tirolertum auf dem Prüfstand
Von Christian Willim
War es Ignoranz oder Dummheit? Im Jahr 2008 wurde Sepp Tanzer jedenfalls zum Namenspatron der Landesmusikschule in Kramsach auserkoren. Der Komponist hatte sich zwar um die Tiroler Blasmusik verdient gemacht. Von 1938 bis 1945 war er allerdings auch unter den Nazis Gaumusikleiter von Tirol und Vorarlberg.
Die Tiroler Landesregierung hat kürzlich die Rückbenennung der Musikschule veranlasst. Es war eine Kehrtwende, die nach einer fast zweijährigen Diskussion um das Wirken von Tiroler Komponisten während der NS-Zeit unumgänglich war. Ein vom Land im Zuge der Debatte in Auftrag gegebenes Gutachten zeigt nun, dass nicht nur das Blasmusikwesen einer Aufarbeitung bedarf.
Kein Einzelfall
Der Wiener Historiker Michael Wedekind stellt in dem am Freitag auf der Internetseite der Landeskulturabteilung online gestellten Bericht die gesamte Tiroler Volkskultur und ihre wissenschaftliche Erforschung auf den Prüfstand. Und er zeigt, dass Sepp Tanzer nicht der einzige Säulenheilige war, dessen Biografie näher beleuchtet werden sollte.
Tanzer war nach dem Krieg weiter eine federführende Figur im Blasmusikverband. Von 1959 bis 1978 bekleidete er den Posten des Landeskapellmeisters. Ähnliche nahtlose Übergänge von Funktionären, die unter den Nazis für die Brauchtumspflege zuständig waren, gab es auch in anderen Bereichen. Die NS-Stelle „Deutsche Tracht“ in Innsbruck wurde etwa von Gertrud Pesendorfer geleitet. In der Nachkriegszeit führt sie ihre Trachten-Forschungen in der Landwirtschaftskammer fort. Im Tiroler Volksmusik und -tanzwesen bekleidete wiederum der Volkskundler Karl Horak während und nach dem Nationalsozialismus zentrale Positionen.
Kulturlandesrätin Beate Palfrader (VP) will nun einen Förderschwerpunkt „Erinnerungskultur“ einrichten. Dass das Gutachten nicht präsentiert, sondern nur online gestellt wurde, zeugt aber vom verschämten Umgang der Politik mit dem Thema. Die regiert in einem Land, in dem bei jedem feierlichen Anlass Schützen und Kapellen aufmarschieren.
Für den Gauleiter
Dieses Aufmarschieren wussten auch die Nazis zu nutzen. Davon zeugen Propagandafilme von den sogenannten Landesschießen, bei denen Gauleiter Franz Hofer alljährlich Zehntausende in Tracht durch Innsbruck defilieren ließ. Die Tiroler sollten als wehrhaftes Bergvolk inszeniert werden. Blasmusik und Schützen wurden finanziell großzügig bedacht.
Michael Wedekind verweist in seinem Gutachten darauf, dass auch die heutigen politischen Eliten in Tirol die Volkskultur noch als „Staffage“ für politische Choreografien nutzen. Welchen Stellenwert das Brauchtum hier hat, zeigt die Tatsache, dass Tirols Landeshauptmann Günther Platter (VP) sowohl dem Schützen- als auch dem Blasmusikverband als Präsident vorsteht.
Späte Aufarbeitung
Während Platter sich zu den Diskussionen bisher nicht äußern wollte, haben die Verbände inzwischen die Notwendigkeit der Aufarbeitung erkannt. Der Blasmusikverband will noch heuer ein wissenschaftlichen Auftrag erteilen. Bei den Schützen läuft bereits ein Projekt.