"Ansteckungsgefahr im Gefängnis erkennen"
Von Julia Schrenk
KURIER: Herr Güngör, bei unserem Gespräch im Mai des Vorjahres haben Sie gesagt, es habe eine "Entzauberung" des Dschihad stattgefunden. Ist das nun doch nicht so?
Kenan Güngör: Insgesamt hat das Thema an Neuigkeitswert verloren, die große Welle ist abgeebbt. Es gab eine graduelle Entschärfung, aber natürlich gibt es immer noch Jugendliche, die gefährdet sind.
Der 15-jährige Mertkan G. wurde engmaschig betreut und ist trotzdem rückfällig geworden. Überrascht Sie das?
Zum speziellen Fall kann ich nichts sagen, aber so etwas kommt immer wieder vor. Mit erscheint in dieser Sache eines wichtig: Wir unterschätzen da etwas. Wir glauben: Jetzt haben wir uns ein bisschen mit einem radikalisierten Jugendlichen beschäftigt, jetzt ist er deradikalisiert. Aber wenn es so einfach wäre, gäbe es auch längst keine Neonazis mehr.
Woran scheitert es da?
Was wir brauchen, ist ein offizielles Deradikalisierungsprogramm in den Gefängnissen. Eines mit Verpflichtungscharakter. Denn nach wie vor sind Gefängnisse oft Rekrutierungsstellen. Oft haben Insassen nur zu einer anderen Person Kontakt. Viele stellen sich im Gefängnis die Sinnfrage. Manche versuchen, in radikal-religiösen Ansichten Halt zu finden. Die Ansteckungsgefahr im Gefängnis muss erkannt werden.
Wie sollte das Deradikalisierungsprogramm, das Sie fordern, ausschauen?
Dazu braucht es finanzielle und personelle Ressourcen. Das was jetzt in den Gefängnissen in Sachen Deradikalisieruung passiert, geht oft von Initiativen aus. Aber da braucht es mehr PS, ein offizielles Programm. Die Menschen, die in den Gefängnissen arbeiten, brauchen eine hohe Beziehungskompetenz, sie müssen Vertrauen zu radikalisierten Menschen – die oft sehr misstrauisch sind – aufbauen können. Die Person muss die Lebenswelt radikalisierter Menschen verstehen und die familiäre und psychische Entwicklung einschätzen können. Und diese Personen müssen die Fähigkeit der ideologischen Dekonstruktion besitzen. Eine Person zu finden, die alle drei Fähigkeiten besitzt, ist sehr schwer. Deradikalisierungsarbeit ist sehr zeitintensiv und dauert oft jahrelang, und der Ausgang ist immer ungewiss.