Chronik/Österreich

71 Tote im Kühl-Lkw: Ein Drama, das Österreich veränderte

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Hussein Mustafa, 33 Jahre, aus Al-Qamishli in Syrien, Absolvent eines Master-Studiums der Archäologie an der Universität Damaskus: Er fasst den Entschluss, nach Europa zu gehen, um dort sein Doktoratsstudium zu beenden und überredet seinen Vater, seinen jüngeren Bruder Raman mit auf die Reise nehmen zu dürfen.

Raman Mustafa, 20 Jahre, ebenfalls aus der syrischen Stadt Al-Qamishli: Er erlangte ein Highschool-Diplom in Informatik, verlässt Syrien, um in Deutschland sein Informatik-Studium zu beenden.

Massoud Youssef, 35 Jahre, wohnhaft in Al-Qamishli: Der studierte Textil-Ingenieur ist langjähriger Freund von Hussein und Raman Mustafa. Er entscheidet sich, mit dem Brüderpaar Mustafa, aus Syrien zu flüchten, und in Europa ein Doktoratsstudium zu beginnen.

Doch deren Traum vom Neubeginn wird auf dem Weg nach Europa zerstört.

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Am 27. August 2015 entdecken zwei Polizisten der Autobahnpolizei Potzneusiedl 71 tote Menschen in einem Kühl-Lkw auf der A4 bei Parndorf im Burgenland.

Bei den Toten handelt es sich um vier Kinder, acht Frauen und 59 Männer aus Afghanistan, Syrien, dem Iran und dem Irak. Sie sind in einem Kühl-Lkw einer slowakischen Fleischverarbeitungsfirma erstickt.

Hussein Mustafa, Raman Mustafa und Massoud Youssef sind unter den Toten. "Unsere Herzen wurden uns an diesem Tag herausgerissen", erzählt Jihad Doroush. Der 36-Jährige verliert an diesem Tag in Österreich zwei Schwager und einen Freund.

Der Fund der 71 toten Flüchtlinge ist aber nicht nur in Jihad Doroushs Leben ein Wendepunkt. Er ist es auch in der österreichischen Flüchtlingspolitik.

Grenzkontrollen

Die 71 Toten sind der Grund dafür, dass Österreich verstärkt an den Grenzen im Osten kontrolliert. Sie sind der Grund dafür, dass Österreich – zumindest zwischenzeitlich – von einer Welle der Hilfsbereitschaft überrollt wird. Und sie sind der Grund dafür, dass Österreich und Deutschland Flüchtlinge zunächst ohne Registrierung durchreisen lassen, um später doch wieder Grenzkontrollen einzuführen.

Die schicksalhafte Reise von Hussein Mustafa, Raman Mustafa und Massoud Youssef beginnt am 13. August 2015. An diesem Tag flüchten die Männer zunächst in die Türkei. Über Griechenland und Mazedonien kommen sie nach Serbien. Dort, erzählt Jihad Doroush, werden die drei Männer misshandelt. Von Serbien geht es weiter nach Ungarn.

Dort hört Doroush das letzte Mal von seinen Freunden: "Das war am 24. August 2015." Es ist kurz vor Mitternacht, die zwölfte Nacht seit Beginn der Flucht der drei Männer. "Per WhatsApp erzählten sie mir, dass sie mit einem Schlepper übereingekommen sind und jetzt in ein Auto steigen und nach Österreich fahren werden."

Danach bricht der Kontakt ab. Elf Tage später erfährt Doroush, dass sich die Brüder Raman und Hussein, sowie Massoud unter den Toten von Parndorf befinden.

Verwandte aus Deutschland fahren nach Österreich, um ihre Angehörigen zu identifizieren.

70 der insgesamt 71 Opfer konnten bisher identifiziert werden. Fünf verdächtige Schlepper sitzen derzeit in Ungarn in U-Haft (siehe Bericht Seite 14), einer in Bulgarien.

Protest

Hussein Mustafa, sein Bruder Raman und deren Freund Massoud Youssef wurden in ihrer Heimat begraben. "Angekommen sind sie bei uns aber erst ein Monat nach deren Tod", sagt Doroush.

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Für die Überstellung der drei Leichname hätten die Familien 6000 Euro zahlen müssen. "Das konterkariert die Moral", sagt Jihad Doroush. Die Vertretung der Regionalregierung Kurdistan-Irak in Österreich habe die Kosten schließlich übernommen, sagt Doroush.

Er kann nicht verstehen, dass die österreichischen Behörden das Verfahren an ungarische abgetreten haben. Deshalb werden am 27. August, dem ersten Jahrestag der Tragödie, auch Freunde und Angehörige der Opfer in Wien vor dem Parlament demonstrieren: "Was meinen Freunden geschehen ist, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit".

Mittwoch, 26. August 2015: Gegen sechs Uhr Früh startet der Kühl-Lkw an der serbisch-ungarischen Grenze.

Donnerstag, 27. August: Zwei Polizisten der Polizeiinspektion Potzneusiedl im Burgenland entdecken einen Kühl-Lkw in einer Pannenbucht auf der A4, Ostautobahn, bei Parndorf. Auch ein Mitarbeiter der Asfinag meldet den abgestellten Lkw.

Freitag, 28. August: 71 Leichen werden aus dem Lkw geborgen. Später stellt sich heraus: Es sind 59 Männer, acht Frauen und vier Kinder. Es handelt sich um Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und dem Iran. Der damalige Landespolizeidirektor Hans Peter Doskozil gibt bekannt, dass vier Verdächtige in Ungarn festgenommen wurden.

Samstag, 29. August: Die Verdächtigen werden in U-Haft genommen. Die Veröffentlichung eines Fotos der Leichen in der Kronen Zeitung führt zu zahlreichen Beschwerden beim Presserat.

Sonntag, 30. August: Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) kündigt verstärkte Kontrollen entlang der Grenzen im Osten an. Am Montag, 31. August, kommt es deshalb in Ungarn zu einem 20 Kilometer langen Stau.

Mittwoch, 2. September: Die Zahl der festgenommenen Verdächtigen steigt auf sechs, fünf von ihnen stammen aus Bulgarien. Ermittler aus Österreich werden nach Bulgarien entsendet.

Anfang Oktober: Die Staatsanwaltschaft Eisenstadt beantragt die Übernahme des Verfahrens durch ungarische Behörden. Grund: Die Flüchtlinge seien „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ bereits in Ungarn ums Leben gekommen.

4. November: Die Anklagebehörde in Kecskemet, knapp 90 Kilometer südöstlich von Budapest, übernimmt das Verfahren.

12. November: 70 der 71 Toten sind identifiziert. 15 wurden am Wiener Zentralfriedhof bestattet, 56 Leichname wurden in deren Heimatländer überführt.

Juli 2016: Die U-Haft über fünf Verdächtige wurde bis 29. August verlängert. Die Ermittlungen dauern an.