Chronik/Oberösterreich

An den Quellen der Geschichte

Christine Maria Grafinger stammt aus Gmunden. Nach dem Studium der Geschichte in Salzburg hat sich die 60-Jährige habilitiert. Sie leitet die Handschriftenabteilung der vatikanischen Bibliothek.


KURIER: Wie darf man sich Ihre Arbeit in der Bibliothek vorstellen?
Christine Maria Grafinger: Ich arbeite an zwei Tagen von 8 bis 18 Uhr. Die anderen Tage von 8 bis 14 Uhr, aber ich bin meistens bis 16.30, 17 Uhr drinnen, denn man kann nicht einfach abbrechen, wenn man etwas schreibt.
Ich bin in der Handschriftenabteilung der Bibliothek und habe das Privatarchiv des Präfekten über. Ich habe jetzt zehn Jahre am Inventar von 290 Handschriften gearbeitet. Ich habe Folie für Folie beschrieben, was da drinnen steht. Sie datieren vom 15. bis zum 19. Jahrhundert. Sie enthalten Verordnungen und Briefe der Päpste, Ernennungen von Angestellten, Bibliotheksordnungen und -eingänge, Anträge von Benützern, Schenkungen, es geht um Faksimile-Projekte und um alte Inventare. Ich habe nun eineinhalb Jahre nur Index gemacht. Das reicht jetzt.


Das ist offensichtlich das Pflichtprogramm. Was ist das Faszinierende an Ihrer Arbeit?
Die reiche Sammlung von Originaldokumenten. Wenn ich eine Handschrift benötige oder irgendetwas will, brauche ich nur in den Speicher gehen und kann mir herausnehmen, was ich will. Wir haben zum Beispiel drei Vergil aus dem 5. und 6. Jahrhundert. Davon sind zwei mit Miniaturen. Wir haben zwei Papyrusstücke aus dem Jahr 120 nach Christus, zwei vollständige Petrusbriefe. Vor ein paar Jahren haben wir Fragmente aus dem Lukas- und Johannesevangelium erhalten. In einem solchen Fragment steht in der sechsten Zeile die erste Überlieferung aus dem Vaterunser. Wir haben nicht nur religiöse Dokumente,sondern auch mathematische Handschriften, medizinische, naturwissenschaftliche Handschriften, auch klassische Handschriften.
Nebenbei halte ich Vorlesungen an Universitäten. Dieses Semester unterrichte ich in Marburg an der Lahn.

In welchen Sprache sind die Werke verfasst?
Der Großteil ist in Latein, wir haben aber auch griechische Werke. Die Bibliothek ist von Papst Nikolaus V. (1397-1455)gegründet worden. Er hatte zwei Inventare, ein griechisches und ein lateinisches. So haben wir den Bestand der Bibliothek nach Sprachen eingeteilt. Wir haben hebräische, arabische, koptische, armenische, persische, türkische, indische, malayische Handschriften. Und noch andere.

Was können Sie lesen?
Latein, Französisch, Spanisch, Griechisch.

Sie leben in Rom und in Gmunden. Was bedeuten für Sie Rom und das Daheim?
Rom ist ein öffentliches Museum. Man kann sich Schritt auf Tritt irgendetwas anschauen. Die Antike, die Renaissance, Barockkirchen, etc. Rom ist zugleich eine laute und schmutzige Stadt. Auf den Straßen sind Löcher, Das Negative ist, dass der Verkehr nicht funktioniert. Er kollabiert. Die Busse kommen nicht, weil sie im Stau stehen, aber auch deshalb, weil die Fahrer undiszipliniert sind. Ich konnte das einmal an einer Endstation, wo ich gewohnt habe, beobachten. Die drei Busfahrer haben Kaffee getrunken. Dann fahren sie gleichzeitig weg. Der erste Bus ist dann so voll, dass man nicht mehr einsteigen kann. Die beiden Busse dahinter fahren leer. Dann kommt eine dreiviertel Stunde kein Bus mehr. Das ist bei uns unvorstellbar.
Die Administration funktioniert nicht. Strom, Versicherung, Miete, Betriebskosten wird in Österreich vom Konto abgebucht. Das geht in Rom nicht. Ich bin zum Banker gegangen, ich habe im Vatikan ein Konto, und habe gesagt, ich möchte das hier abbuchen lassen, worauf er geantwortet hat, er gehe selbst auch auf die Post und zahle dort ein. Ich kann bei einer italienischen Bank schon ein Konto eröffnen, aber die Spesen von rund 300 Euro sind mir für ein paar Abbuchungen zu hoch. Jetzt muss ich mich bei der Post anstellen und eine Nummer ziehen. Wenn 60 vor mir in der Schlange sind, stelle ich mich vielleicht an. Wenn 200 vor mir sind, dann gehe ich wieder.

Die öffentliche Gemeinwesen funktioniert schlecht bis gar nicht.
Man kann das nicht für ganz Italien sagen. Der Appennin ist eine Grenze. In Norditalien geht das, zum Beispiel in Florenz. Im Veneto sowieso, denn die Venetianer sagen, wir sind halbe Österreicher. Je weiter man in den Süden kommt, umso weniger funktioniert es. Wenn mir wieder einmal fünf Sachen gegen den Strich gehen, auch in der Arbeit, dann sagen die Italiener, wir machen das, faciamo, faciamo, aber sie machen nichts. Dann sage ich ihnen, ihr seid ärger als die Afrikaner. Dann geben sie mir als Antwort, Sie sind ja eine Deutsche (sei una vera tedesca). Dann hacheln wir wieder miteinander.

Was gefällt Ihnen in Gmunden?
Es funktioniert alles gut. Bei der Post warte ich vielleicht drei Minuten. In Rom stehe ich eine Stunde und vielleicht noch länger. Fünf Schalter sind besetzt, davon jausnet einer, zwei unterhalten sich, eine schaut in die Luft. Es gibt Sachen, die gehen mir in Rom ab, und es gibt Dinge, die gehen mir hier ab. In Rom träume ich zum Beispiel davon, ein gutes Brot oder ein gutes Buttersemmerl zu haben. Aber wir haben im Vatikan einen Supermarkt, in dem es seit zwei Jahren eine Brotabteilung mit einem guten Weißbrot aus Apulien gibt. Dafür gehen mir zum Beispiel in Gmunden die guten Tomaten ab. Bei uns schmecken sie nach nichts. In Rom kann ich zwischen sechs, sieben Tomatensorten wählen. Oder die Blutorangen, die jetzt aus Sizilien kommen. Sie sind fast schwarz. Ich schneide sie mir auf, gebe ein bisschen Salz und Olivenöl darüber und esse sie als Salat. Das habe ich von den Italienern gelernt. Jetzt gehen auch die Artischocken los.

Wieviel Angestellte gibt es im Vatikan?
Es sind an die 4000. In den vatikanischen Museen steht an jeder Ecke ein Wärter. Dazu kommen die Wärter im Petersdom. In der Bibliothek arbeiten rund 100 Anstellte. Davon sind neun Restauratoren. Im Fotolabor sind auch neun Leute. Im Druckschriftenkatalog arbeiten acht oder neun Frauen, die die Bücher katalogisieren. Im Handschriftensaal sind wir vier. Im Druckschriftensaal sieben und im Zeitschriftensaal drei.

Was verdienen Sie?
Ich verdiene jetzt 1800 Euro netto, 13 mal jährlich. Die Angestellten des Vatikans haben 21 Urlaubstage, die steigen nie. Meine Cousine ist Hauptschullehrerin, sie verdient mehr als ich. Bei den Wohnungspreisen in Rom muss man ziemlich sparen, damit man über die Runden kommt. Ich gehe beispielsweise am Samstag auf den Gemüsemarkt und kaufe mir dort die Sachen. Da bekomme ich ein Kilo Äpfel um 1,50 Euro.
Beim Gesundheitssystem sind wir im Vatikan privilegiert. Wir haben eine eigene Versicherung, aber die gilt nur in Rom. Wenn ich in Gmunden zum Arzt muss, muss ich mir einen Teil selbst bezahlen. In römischen Krankenhäusern bekomme ich relativ schnell einen Termin. Aber der Mann der Sekretärin des Präfekten, ein Römer, musste eine Darmuntersuchung machen, er musste sieben Monate darauf warten. Wenn man Pech hat und zum Beispiel Darmkrebs hat, ist man in der Zwischenzeit tot. Das ist das italienische System. Ich ärgere mich, wenn die Leute bei uns in Österreich jammern. Vor zwei Jahren habe ich beim Zahnarzt für eine Plombe in Rom 400 Euro bezahlt. In Österreich ist das alles kostenlos.

Mit Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus haben Sie drei Päpste erlebt. Was bekommen Sie von Ihnen mit?
Wir in der Bibliothek bekommen wenig mit. Wir sind in der Hierarchie zu weit unten. Das Geschehen spielt sich im Papstpalast ab. Bei diesem Papst sind auf jeden Fall bei den Generalaudienzen viel mehr Besucher. Benedikt XVI. war zwei Mal in unserer Bibliothek.