Chronik/Oberösterreich

300.000 waren an der Front

Was bedeutete der Erste Weltkrieg für Oberösterreich? Ein Gespräch mit dem in Rohrbach geborenen Historiker Roman Sandgruber. Er ist Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Linz. Der 67-Jährige ist Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Von 1998 bis 2003 war er Mitglied der Österreichischen Historikerkommission. 2013 erschien sein Buch Traumzeit für Millionäre. Die 929 reichsten Wienerinnen und Wiener im Jahre 1910.

KURIER: In welcher Art und Weise war der Erste Weltkrieg in Oberösterreich spürbar?

Roman Sandgruber: In zweierlei Hinsicht. Es waren während der vier Jahre an die 300.000 Männer an der Front. Mehr als 20.000 sind gefallen. Wenn man die Verwundeten noch dazurechnet, ist das doch ein beträchtlicher Blutzoll. Im heutigen Österreich gab es mehr als 200.000 Tote. Die Zahlen schwanken, je nachdem, ob man die Grippetoten von 1918/’19 einrechnet oder nicht. Sie waren eine mittelbare Folge des Krieges, denn durch die schlechte Ernährung war die Widerstandskraft der Menschen geschwächt.

Wie hoch war die Bevölkerungszahl?

Die Zählung von 1910 ergab 853.595 ortsansässige Bevölkerung in Oberösterreich (heute 1,42 Millionen, Anm. d. Red.).

Im Hinterland hat man den Krieg sehr stark gespürt. Vor allem durch die vielen Kriegsgefangenen, von denen in Relation zur Bevölkerung die meisten in Oberösterreich untergebracht waren. Die Kriegsgefangenenlager wurden fast ausschließlich in deutschsprachigen Gebieten der Monarchie angelegt. Weiters hat man den Mangel an Lebensmitteln und sonstigen Produkten gespürt. Es wurde für die Front gnadenlos requiriert. Es gab einen Arbeitskräftemangel, dadurch fielen auch die Ernten geringer aus. Den Hunger hat man vor allem in den Städten gemerkt.

Wo waren die Gefangenenlager?

Ein großes war in Mauthausen. Das war aber nicht an der Stelle des späteren Konzentrationslagers. Weiters war ein großes Freistadt, eines in Braunau und in Linz-Wegscheid. Freistadt hatte 2000 Einwohner und 20.000 Kriegsgefangene. In Mauthausen waren die Todeszahlen sehr hoch, rund 5000, weil dort das Fleckfieber grassierte. In Mauthausen ist auch Bischof Rudolf Hittmair 1915 gestorben, der Gefangene gepflegt und sich dabei angesteckt hat.

Wie war die Stimmung in der Bevölkerung?

Sie wird unterschiedlich gewesen sein. Laut offiziellen Darstellungen wird bei Kriegsbeginn von Jubel berichtet, der meines Erachtens bestenfalls in den Städten der Fall war, nicht aber bei den Bauern. Sie wollten im Sommer ihre Ernte einbringen und nicht in den Krieg ziehen. Es war auch Landeshauptmann Johannes Nepomuk Hauser (Landeshauptmann von 1908–1927, Anm. d. Red.) massiv gegen den Krieg. Der Bischof hingegen war in einem Jubelhirtenbrief für den Krieg.

Kaiser Franz Josef hat am 28. Juli 1918 die Kriegserklärung gegen Serbien in Bad Ischl unterzeichnet.

In vielen Medien wird so getan, als ob das Attentat gegen Thronfolger Franz Ferdinand am 28. Juni der Kriegsbeginn gewesen sei. Der Krieg hat aber erst am 28. Juli begonnen. Da ist noch ein Monat dazwischen. Es gibt aber keinen Automatismus vom Attentat zum Krieg. Arthur Schnitzler notierte beispielsweise in sein Tagebuch, dass der 28. Juni ein schöner Tag gewesen ist und dass es das Attentat gegeben hat. Es ist ein österreichischer Mythos, dass man darauf mit Krieg habe antworten müssen. Man sollte mehr den 28. Juli als Tag des Kriegsbeginns betonen. Der Weltkrieg war nicht allein Schuld der Österreicher, aber es gab einen massiven Beitrag der österreichischen Politik und Diplomatie, dass der Krieg begonnen hat. Es haben sich alle europäischen Staaten da hineintreiben lassen. Das Attentat war nur der Vorwand zum Handeln.

Für Österreich war die Rückendeckung Berlins für den Krieg gegen Serbien entscheidend. Sowohl Berlin als auch Wien wussten, dass dies einen Krieg mit Russland zur Folge hat.

Zur Folge haben könnte. Ganz sicher hat man es nicht gewusst. Man hoffte, dass alle zurückschrecken und es bei einer begrenzten Strafexpedition gegen Serbien bleibt. Aber man hat natürlich schon auch mit dem großen Krieg gerechnet und die große Mobilmachung begonnen. Vorbereitet auf den großen Krieg war zumindest Österreich-Ungarn nicht wirklich.

Christopher Clark, Historiker in Cambridge, stellt in seinem Buch "Die Schlafwandler – Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog" die These auf, dass Deutschland nicht der Alleinschuldige war, sondern der Krieg die Folge einer Kette von Entscheidungen verschiedener Akteure war, die keinesfalls unausweichlich waren.

Diese These ist weitaus besser als jene von der Alleinschuld Deutschlands, die von keinem Historiker als eindeutig vertreten worden ist. Österreich-Ungarn hat eine Mitschuld. Es hat auch immer eine Mitschuld Frankreichs gegeben. Clark betont auch die Mitverantwortung Serbiens. Es gibt auch Stimmen, die England eine wesentliche Mitschuld zuschreiben. Es gab überall Leute, die Kriegsinteressen gehabt haben.

Wer war das in Österreich?

Hier spielen sehr stark die Politik und Diplomatie mit. Man wollte von den inneren Schwierigkeiten durch einen äußeren Erfolg ablenken. Man erwartete sich eine Beruhigung der Nationalitätenkonflikte durch die Niederschlagung Serbiens. Die Armee spielte sicherlich auch eine Rolle. Die Offiziere hatten ein Interesse am Krieg. Sie gingen 1914 davon aus, dass nicht wirklich etwas Gravierendes passieren kann. Sie erhofften sich Orden und Auszeichnungen und setzten darauf, so weiterleben zu können wie vorher. Symptomatisch ist die Art und Weise, wie die Mobilmachung vor sich gegangen ist. Der Generalstab fährt von Pressburg nach Galizien und benötigt für die 500 km lange Strecke sechs Tage. Sie haben den Zug zum Mittag- und Abendessen stets anhalten lassen, um in Restaurants zu speisen und in Hotels zu nächtigen. Sie taten so, als ob Friede wäre. Sie merkten nicht, dass ein Krieg kommt, der an die Existenz geht. Im Offizierskorps gab es viele, die meinten, das wird ein lustiges Abenteuer.

Waren die Deutschen militärisch nicht wesentlich besser ausgerüstet als die Österreicher?

Das war unterschiedlich. Die Habsburger-Monarchie hat vor und während des Krieges deutlich weniger für Rüstung ausgegeben als die anderen Mächte. Man war zu wenig ausgerüstet, aber man hat Maschinengewehre gehabt. Das österreichische Maschinengewehr war nicht schlecht, es war die Hauptwaffe. In der Artillerie war man mit dem 30,5-cm-Skoda-Mörser gut bestückt. Das war vor dem Ersten Weltkrieg die beste große Kanone. Mit dieser Kanone hat man den Deutschen in Belgien ausgeholfen. Die Flotte war zu vergessen. Man war zwar überall dabei, aber das Hauptproblem war, dass es von allem zu wenig gab.

Die österreichischen Kriegskosten sind fast gleich mit den italienischen. Italien war deutlich kleiner und ein Jahr weniger lang im Krieg. Es war die wirtschaftliche Kraft nicht da und es ist nicht gelungen, die Bevölkerung vom Krieg zu überzeugen. Vor allem nicht die nichtdeutschsprachigen Teile. Die Bosnier hingegen waren voll dabei, vor allem gegen die Serben und Italiener. Die Ungarn waren auch dabei, sie haben aber sehr ihre Eigenständigkeit betont. Die Reibereien zwischen Österreich und Ungarn gingen auch während des Krieges weiter.

Den zweiten Teil des Interviews mit Roman Sandgruber über den Ersten Weltkrieg in Oberösterreich lesen am kommenden Sonntag, 13. Juli, im Oberösterreich-KURIER.