„Gefühl totaler Entschleunigung“
Von Josef Ertl
Friedrich Binder hat einen speziellen Beruf. Der 60-Jährige sieht sich die Qualität der Berichte jener Prüfer an, die die Genossenschaften und die Raiffeisenbanken kontrollieren. Dabei kann die Arbeit in der Revisionsabteilung des Raiffeisenverbandes Oberösterreich auch Stress bedeuten. Besonders im Juni, wenn die Berichte der Raiffeisenkassen bei der Bankenaufsicht sein müssen. „Das kann schon schlechten Schlaf bis Schlaflosigkeit bedeuten“, erzählt der Bauerssohn, der aus Rottenbach bei Haag am Hausruck stammt und an der Linzer Universität Wirtschaft studiert hat.
Sein Weg gegen den Stress ist Pilgern und Wandern. „Ich bin draufgekommen, dass das totale Entschleunigung und ein Kraftschöpfen bedeutet. Es ist eine Leichtigkeit des Seins.“
Durch verschiedene Berichte und Vorträge auf den Jakobsweg aufmerksam gemacht, legte er 2002 diesen bekanntesten europäischen Pilgerweg mit rund 900 km Länge zurück. Er startete in den französischen Pyrenäen und ging in etwas mehr als vier Wochen über Santiago de Compostela hinaus bis ans frühere Ende der Welt, dem Cap Finisterre am Atlantik. Pro Tag legt Binder rund 30 km zurück.
Bevor Binder zu seinen Weitwanderungen aufbricht, bereitet er sich körperlich vor. An sechs Wochenenden marschiert er Samstag und Sonntag in der Umgebung von Linz, damit er später die Strapazen leichter erträgt. Zu viel, zu schnell und zu weit sollte man nicht gehen, empfiehlt er. Bis heute habe er seinen Rucksack nie abgewogen. Er schätze, dass das Gewicht des Rucksacks weniger als zehn Kilogramm betrage. „Man überlegt sich bei jedem Gegenstand, ob man ihn benötigt.“
Manchen Pilgern gehe es um die Suche nach sich selbst, um Versöhnung mit sich selbst, mit der Familie und mit anderen. Er brauche das nicht, er sei in Balance.
„Ich hätte statt der kurzen eine lange Hose anziehen sollen, ich war zu unbedacht.“ 2004 setzte er dort fort, wo er 2003 aufgeben musste. 2005 ging er in vier Wochen von Linz nach Genf, womit er den gesamten Jakobsweg zurückgelegt hatte.
2006 ging er vom großen Sankt-Bernhard-Pass in der französischen Schweiz nach Rom. Das ist ein Teil des Frankenweges, der von Canterbury nach Rom führt. Auf diesem Pilgerweg durch Italien wurde er stets freundlich aufgenommen. Eine weitere europäische Wanderroute war der Weg von der Ostsee nach Genua.
Über elf Jahre hat er nun in seinen Urlauben rund 7500 Kilometer zu Fuß zurückgelegt. Die Erkenntnisse: „Es gibt kaum Unterschiede zwischen den Menschen. Es gibt so etwas wie eine unbewusste europäische Identität, auch wenn Klischees und Vorurteile weiter vorhanden sind. Und: „Alle befinden sich auf der Pilgerschaft des Lebens.“