Chronik/Oberösterreich

"Für Behinderte fehlen 83 Millionen Euro"

Birgit Gerstorfer (53) ist Landesvorsitzende der SPÖ Oberösterreich und als Landesrätin für Soziales, Frauen und die SPÖ-Gemeinden zuständig.

KURIER: Kritiker meinen, unter Ihrer Führung sei kein Aufschwung in der Landes-SPÖ erkennbar, es gehe so weiter wie unter Reinhold Entholzer.Birgit Gerstorfer: Man hat immer Kritiker, ob sie nun aus der Presse oder aus anderen Bereichen kommen. In der Politik gibt es niemanden, der es allen recht machen kann. Wenn wir auf das schauen, was in der Partei und im Sozialressort läuft, kann man das auf gar keinen Fall so stehen lassen. Die Ergebnisse sind zugegebenermaßen noch wenig sichtbar.

Sie streuen derzeit die Saat, die später aufgehen soll?

Genau. Bettina Stadlbauer arbeitet seit September als Landesgeschäftsführerin. Die Themenfelder Arbeit, Gleichberechtigung und soziale Sicherheit werden konkretisiert und in Kampagnen umgesetzt. Am 1. Mai werden wir mit dem Thema Arbeit starten.

Man muss in einer kristengeschüttelten Partei, die in den vergangenen Jahren viel an Boden verloren hat, entsprechend viel Aufbauarbeit leisten. Wir müssen uns neu strukturieren, die budgetären Mittel sind weniger geworden. Erfolge sind nicht nach ein, zwei Monaten erkennbar.

Sie sind nun seit sieben Monaten Parteivorsitzende und seit sechs Monaten Landesrätin. Wie haben Sie den Beginn erlebt?

Man wird in der Politik sehr stark hofiert und beobachtet, das Medieninteresse ist sehr groß, Kleinigkeiten sind sehr wichtig.

Zum Beispiel?

Wie man ausschaut, was man anzieht, aber auch wie man kommuniziert, wie stark Aussagen auf die Waagschale gelegt werden. Oft geht es in der Partei und in der Landesregierung um ein Abtesten, wo die Positionen sind. Oft wird es als gegeben hingenommen, was ich sage, aber ich brauche auch Entscheidungsprozesse und Wahrnehmungen des Umfelds. Das Horchen, wie es den Menschen geht, bedeutet auch Fragen und Reden.

Der fachliche Unterschied zu meiner früheren Position als Leiterin des Arbeitsmarktservice ist nicht so groß. Mit Sozial- und Frauenpolitik hatte ich schon früher zu tun. In de r Sozialdemokratie gibt es für mich viel Lernpotenzial. Das fängt mit dem Parteiprogramm und der Geschichte an und endet damit, zu Themen politische Positionen zu finden.

Haben Sie sich die Politik anders vorgestellt?

Ehrlich gesagt habe ich sie mir schwieriger vorgestellt. Alle kochen nur mit Wasser. Ich achte darauf, dass mir gewisse Dinge nicht abhanden kommen wie der Hausverstand und die Grundregeln des Miteinanders.

In welchen Bereichen ist Ihre Handschrift bereits erkennbar?

Es ist das Projekt Sozialressort 2021 Plus. Ich fahre hier eine andere Linie als meine Vorgänger. Ich stehe für völlige Transparenz. Es gibt nichts zu verstecken. Im Chancengleichheitsgesetz, sprich bei den Behinderten, haben wir lange Wartelisten. Das betrifft das Wohnen, fähigkeitsorientierte Aktivitäten in Werkstätten, geschützte Arbeit und persönliche Assistenz. In Summe benötigen wir jährlich 83 Millionen Euro zusätzlich. Das wären 1600 zusätzliche Arbeitsplätze. Das Geld werden wir bei allem Sparwillen nicht aus dem bestehenden Budget finanzieren können, denn das sind 15 Prozent des Sozialbudgets. Am Ende des Tages wird die Politik entscheiden müssen, ob wir die Leute zu Hause sitzen und versauern lassen oder ob wir Geld für eine adäquate Versorgung in die Hand nehmen.

Gemeindebundpräsident Hans Hingsamer (ÖVP) argumentiert, der Betreuungsschlüssel sei zu niedrig, ein Betreuer kann sich um mehr als um sechs Behinderte kümmern. Die FPÖ sagt, es kommen zu viele Ausländer rein, sodass für die Einheimischen zu wenig Geld bleibt.

Meine Vorgängerin Gerti Jahn hat bereits ein Sparpaket angestoßen, das 25 Millionen Euro schwer ist. Da ist bereits viel in der Pipeline, was die Verdichtung der Betreuungsressourcen betrifft. Die Mitarbeiter sind deshalb schon sehr an der Belastungsgrenze. Oft ist es räumlich gar nicht möglich, von sechs auf acht oder mehr Personen zu erweitern. Und es gibt auch arbeitsrechtliche Einschränkungen. Das heißt, es gibt Grenzen für die Betreuungsdichte.

Zur FPÖ. Lässt man es zu, dass man die eine Gruppe gegen die andere ausspielt? Ich finde das hochgradig unfair. Die Zahlen gehen bei der Mindestsicherung sogar zurück. Wir haben nun weniger Bezieher.

Bundeskanzler Christian Christian Kern hat eine gewisse Öffnung zur FPÖ vorgenommen. Wie sehen Sie das Verhältnis zu den Freiheitlichen?

Kern ist in ein sachliches Gespräch eingetreten. Die Erwartungshaltung der Medien, dass sich die beiden verbal prügeln, ist nicht erfüllt worden.

Wie ist Ihr Verhältnis zur FPÖ?

Mein Angebot, ganz normal miteinander zu reden, steht. Das ist auch notwendig, weil wir in der Landesregierung Bereiche haben, die sich überschneiden. In der Sozialpolitik sind wir uns nicht einig. Ich kann der Kürzung der Mindestsicherung nichts abgewinnen. Die Zahl der Bezieher ist nicht einmal dreistellig. Das war eine völlig Fehlrechnung von ÖVP und FPÖ, was man hier sparen kann. Sie haben von sieben Millionen jährlich geredet, wir bringen aber bestenfalls einen fünfstelligen Betrag zusammen (unter 100.000 Euro).

Soll die SPÖ mit der FPÖ koalieren, wie dies Landeshauptmann Niessl fordert?

Es gibt Einzelpositionen wie Niessl. Andere sind völlig dagegen. Ich gehöre der Arbeitsgruppe an, die einen Kriterienkatalog für eine Zusammenarbeit formuliert.

Wie ist Ihre persönliche Meinung?

Die Wahrscheinlichkeit ist derzeit nicht so groß,dass wir so viele überlappende Bereiche finden, dass man gut zusammenarbeiten kann. Aber es ist nicht ausgeschlossen.

Ein großer Teil sozialdemokratischer Wähler stimmt nun für die FPÖ. Insbesondere die Arbeiter. Was wollen Sie tun, damit Sie diese zurückgewinnen?

Wenn die Menschen, die in den Gemeinden rot gewählt haben, dies auch auf Landesebene gemacht hätten, hätten wir im vergangenen Jahr 28 Prozent erzielt. Das Potenzial ist da.

Wer ist heute ein Arbeiter? Ist das der Hackler in der Fabrik, der bei der Gewerkschaftswahl rot und auf Landesebene blau wählt? Was sind die Enttäuschungen dieser Menschen? Aus dem Einkommensbericht des Rechnungshofes geht hervor, dass die Arbeiter seit 1998 bei Reallohnverluste hinnehmen mussten. Es ist für sie schwieriger geworden. Bei den Arbeiterinnen ist es noch viel krasser. Sie haben ein jährliches Durchschnittseinkommen von 11.000 Euro brutto. Dort muss man nachjustieren. Und nicht Sozialbau betreiben, wie das die Freiheitlichen im Besonderen tun. Es braucht einen Mindeststundenlohn von zehn Euro. Das sind 1700 Euro brutto im Monat. Wir müssen die Situation jener verbessern, die sich als Verlierer in der Gesellschaft fühlen. Sie sind am Sprung zur FPÖ, die sagen, nehmen wir den Ausländern was weg, dann haben wir mehr für die anderen. Kürzlich war ein 61-jähriger Hausbesorger bei mir, der 1516 Euro brutto verdient. Ein 51-Jähriger verdient 1200 Euro netto und muss täglich 70 km pendeln. Es bleiben ihm nur 900 Euro.

Das zweite Thema ist die Kinderbetreuung. Sie ist der Schlüssel für die Berufstätigkeit der Frau. Jene Länder, wo die Frauen darauf einen Rechtsanspruch haben wie Frankreich oder Schweden, haben eine viel höhere Erwerbstätigkeit und viel höhere Geburtenraten. Das würde massiv Arbeitsplätze schaffen.