„EU-Zerfall kostet Wohlstand von 15 Jahren“
Von Josef Ertl
Das Europäische Forum Alpbach (16. August bis 1. September) beschäftigt sich heuer mit dem Thema „Erwartungen – Zukunft der Jugend“. Im Vorfeld treffen sich vom 22. bis 24. Juni Vertreter der 30 internationalen Initiativgruppen und Clubs des Forums in Linz, um über die Zukunftschancen zu diskutieren. Ein Gespräch mit dem ehemaligen Landwirtschaftsminister (1989–1994) und EU-Kommissar (1995– 2004) Franz Fischler (65), der nun Präsident des Forums Alpbach ist.
KURIER: Wir hängen den Jungen große Rucksäcke um: einen Schuldenberg, weniger Kinder, was einen Rückgang des Wohlstands bedeutet, weil weniger in die Steuer- und Sozialtöpfe einzahlen, die Klimaveränderung, etc.
Franz Fischler: Sie haben mit Ihren Beispielen völlig recht. Es gibt aber auch noch andere Themen. Ganz brisant ist die Jugendarbeitslosigkeit. Zustände, dass 50 Prozent der Jungen arbeitslos sind, wie das derzeit in Spanien der Fall ist, sind sozialer Sprengstoff. Wenn man hier nicht sehr rasch entsprechende Antworten findet, dann ist der soziale Friede infrage gestellt. Es gibt nichts Ärgeres, als dass man jungen Leuten, die dabei sind, ihr Leben zu organisieren und eine Familie zu gründen, die größtmögliche Frustration zumutet, die man jemandem zumuten kann, dass sie auf die Sozialfürsorge angewiesen sind.
Es geht auch um Perspektiven für die akademische Jugend. Es gibt außer dem Forum Alpbach keine zweite Einrichtung in Europa, wo die Jungen eine so zentrale Rolle spielen. Wir haben jedes Jahr 800 jungen Leute, die sogenannte Zertifikatskurse besuchen. International renommierte Vortragende referieren. Sponsoren machen es möglich, auch Studenten aus ärmeren Ländern einzuladen. Wir haben jedes Jahr Vertreter aus mehr als 30 Staaten. Dazu kommt, dass diese Leute über Social Media perfekt vernetzt sind. Vor rund zehn Jahren wurde begonnen in vielen Ländern Klubs zu bilden. Es gibt schon 30 solche Gruppen. Die jüngste Gruppe wurde in Kairo gegründet, demnächst wird es eine in Peking geben. Jede dieser Gruppen macht auch während des Jahres ein Programm. Auf diese Weise kann man das Thema des Jahres breit diskutieren und vorbereiten. Das ist eine der erfolgreichsten Aktivitäten, die wir in Alpbach haben.
Was schuldet die Gesellschaft der Jugend?
Zukunft. Man sollte dringend das Thema Nachhaltigkeit in dieser Perspektive sehen. Es ist zu wenig, das, was in der Vergangenheit war, in die Zukunft fortzuschreiben. Wir müssen unsere Gesellschaft zukunftsfähig machen. Wir dürfen uns nicht so verhalten, als ob wir die letzte Generation auf diesem Planeten wären.
Wer kann den Jungen Lebenskraft und Lebensausrichtung vermitteln?
Eine gewisse Kraft beziehen die Jungen aus dem Gemeinschaftserlebnis. Das können wir zu einem gewissen Grad auch in Alpbach bieten. Wenn der Einzelne merkt, dass er mit seinen Sorgen nicht allein ist, wenn er merkt, dass man gemeinsam mehr erreichen kann, kann das Bewusstsein der Jungen sehr stärken.
Bei den traditionellen Anbietern in diesem Bereich wie den Kirchen oder den Parteijugend-Organisationen findet das nur mehr ganz wenig statt.
Themenwechsel. Europa ist eine einzige Baustelle.
Das hat schon Helmut Kohl gesagt.
Wir haben ein Flickwerk, von dem wir sehen werden, ob es sich bewähren wird.
Die gesamte EU ist im Prinzip ein Eins-zu-eins-Versuch. Es gibt keine Referenzmodelle. Es funktioniert nach dem Prinzip Versuch und Irrtum. Das ist auch der Grund, warum diese Konstruktion krisenanfälliger ist als der Nationalstaat. Mit dieser Schwierigkeit müssen wir leben, daran führt kein Weg vorbei.
Was die Sache aber jetzt in der Euro-Krise so dramatisch macht, ist, dass man erstens fast immer zu spät kommt und dass zweitens die Maßnahmen nur halbe und in keinem Fall hinreichend sind. Dadurch geht ein Problem nie zu Ende. Dazu kommt, dass sich mehrere Krisen übereinanderlagern. Wir haben das Problem, wie wir mit der öffentlichen Verschuldung umgehen. Gleichzeitig haben wir Probleme wie die Jugendarbeitslosigkeit oder wie antwortet Europa auf die Globalisierung. Wir haben auch ein politisches Dilemma. Dessen Kern besteht darin, dass wir zurzeit zwei gegensätzliche Bewegungen haben, die sich gegenseitig aufschaukeln. Auf der einen Seite gibt es jene, die sagen, wir brauchen mehr Europa, wenn wir eine Rolle in der Welt spielen wollen, wenn wir erfolgreich sein wollen, wenn wir eine Konkurrenz zu China sein wollen. Jeder Ruf nach mehr Europa ist aber gleichzeitig Wasser auf die Mühlen der Populisten, die sagen, wir müssen zurück zum Nationalstaat. Wir haben jetzt einen Grat erreicht, wo es beginnt, gefährlich zu werden. Die linken und rechten Populisten nehmen zu. Marie Le Pen sagt zum Beispiel, ob rechts oder links spielt längst keine Rolle mehr. Es geht einfach nur darum, dass man mehr Nationalismus braucht.
Diese zwei Fronten stehen sich gegenüber. Hier gibt es keine schnelle Lösung. Diese beginnt damit, dass man die Probleme richtig identifiziert, um die richtige Medizin finden zu können.
Sie waren zehn Jahre Kommissar in Brüssel, Sie kennen den Apparat. Welcher Lösungen bedarf es?
Die klassische Vorgangsweise mit europäischer Diskussion und Gesetzgebung findet immer weniger statt. Die Regierungschefs ziehen alles an sich. Die Vorschläge kommen nicht mehr von der Kommission, sondern man kann sie nachlesen in den Schlussfolgerungen der Treffen der Regierungschefs.
Durch diese Vorgangsweise werden die europäischen Organe wie die Kommission oder das Parlament ausgeschaltet. Zudem stehen diese Beschlüsse über weite Strecken außerhalb des europäischen Rechts. Das kann man studieren am ersten Rettungsschirm. Das ist kein europäisches Gesetz mit einer europäischen Regelung, sondern jeder Regierungschef verpflichtet sich, zu Hause in seiner Verfassung die Schuldenbremse einzuführen. Man summiert also nationale Lösungen.
Bei der neuen Idee der Fiskalunion ist die Vorgangsweise eine ähnliche. Es ist wieder kein EU-Vertrag. Deshalb kann man die europäische Exekutive nicht ohne Weiteres zur Durchführung heranziehen. Aus der Not heraus werden Parallelstrukturen aufgebaut, weil der Wille abhanden gekommen ist, sich europäisch zu einigen. An dieser Nichteinigung haben die Briten einen wesentlichen Anteil. Irgendwann wird der Punkt erreicht, wo man die Frage stellen muss, was will man eigentlich in Europa? Will man eine Gemeinschaft? Glaubt man, dass man mit der gemeinschaftlichen Idee weiterkommt oder geht man zu einem gewissen Prozentsatz zurück in die frühere Kleinstaaterei?
Ein Problem ist, dass viel zu wenig klar ist, was Desintegration bedeutet. Wenn man in der Diskussion weiterkommen will, muss man den Leuten vor Augen halten, was es bedeuten würde, wenn es die europäische Integration nicht gäbe. Denn dann kann man auswählen und entscheiden.
Was bedeutet ein Auseinanderfallen?
Es hat riesige Nachteile und wir können viele Chancen nicht wahrnehmen.
Also klare Wohlstandsverluste.
Absolut.
In welchem Ausmaß?
Wir würden sofort die Zuwächse der vergangenen 15 Jahre verlieren.
Wie könnte die Integration vorangetrieben werden?
Man sollte gezielte Schritte gehen. Ich halte den Vorschlag des deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble für gescheit, der sich für einen Präsidenten Europas ausgesprochen hat, der direkt gewählt wird. Dieser Kopf sollte das gemeinsame Europa repräsentieren. Das würde auch konsequenterweise bedeuten, dass es europäische Parteien gibt.