Chronik/Oberösterreich

"Die Mitte bröckelt"

Manfred Scheuer ist seit acht Monaten Bischof von Linz. Der 61-Jährige stammt aus Haibach ob der Donau und war von 2003 bis 2015 Bischof von Innsbruck.

KURIER: Wie sieht Ihre Bilanz der Regionalwanderungen in den verschiedenen Teilen der Diözese aus?

Manfred Scheuer:Ich kann die Diözese nicht auf Anhieb kennen, sondern das ist ein Weg, der Zeit braucht. Es gibt viele einzelne Etappen. Wenn als Signal herauskäme, dass wir unterwegs sind und ich auf Menschen zugehen will, dann bin ich zufrieden. Wenn ein Verständnis dafür entsteht, dass es langsam geht und dass ich kein Wunderwuzzi bin. Meine Intention war schon auch zu vermitteln, Kirche und die in ihr Beschäftigten sollen unterwegs sein. Und die Nase dort haben, was sich bei den Menschen abspielt.

Wie war Ihr Eindruck, den Sie gewonnen haben? Ist die Diözese vielfältig?

Die Diözese ist vielfältig im positiven Sinn. Ich habe den Eindruck, dass teilweise noch eine Frömmigkeit im guten Sinn da ist. Aber Kirchlichkeit bröckelt. Das ist ganz klar, wenn man das mit der Situation vor 20 oder 40 Jahren vergleicht.

Es gibt andererseits auch die Unterschiede zwischen Menschen, die nicht mehr miteinander können oder einfach nebeneinander existieren. Ich habe zurzeit nicht den Eindruck, dass sie aufeinander losgehen. Aber es ist auch nicht so, dass man einander umarmt.

In Summe sehen alle die Herausforderungen, die in der Pastoral und in den Pfarren da sind. Man weiß nicht genau, wie es weitergeht.

Kann man mit diesem Zustand leben?In der Vergangenheit war die Aggression in der Auseinandersetzung eine höhere.

Wenn man mit dem Status quo lebt, muss man sich dessen bewusst sein, dass es jeden Tag weniger wird. Die entscheidende Frage für alle Beteiligten lautet, wo können wir Neues aufbauen?

Haben die verschiedenen Gruppierungen nicht in der katholischen Breite Platz?

Ich habe schon den Eindruck, dass uns die katholische Mitte etwas weggebrochen ist.

Hin zu den Rändern?

Im guten Sinn hin zu gut Engagierten. Manchmal hin zu eher pointiert und stark Aufgeladenen. Das gilt auch für politische Anschauungen innerhalb der Kirche und für religiöse Ausrichtungen. Es ist nicht ganz so einfach, in ganz normalen Pfarrgemeinden und Familien, bei politische Fragen wie Wahlen und die Flüchtlings- und Asylfrage gut zusammenzukommen. Wir müssen ehrlich sein, so leicht tun wir uns nicht.

Ist es nicht so, dass die Anschauungen in der Kirche vielfältiger geworden sind? Man kann aber niemandem absprechen, dass er nicht katholisch ist.

Das will ich auch nicht. Ich sehe es durchaus auch als meine Aufgabe zusammenzuführen und eigene Positionen kritisch zu hinterfragen. Es ist auch nicht meine Aufgabe auszugrenzen. Was ich allerdings schon sehe ist, dass einzelne Positionierungen und Gruppen die anderen ausgrenzen. Das geht auf keinen Fall.

Was braucht die Diözese?

Ich verstehe mich immer noch in der Anfangsphase. In meinen anderen Tätigkeiten wie in Innsbruck habe ich nach einem halben Jahr noch nicht gewusst, wie es langgeht. Ich schaue immer noch, wer ist wo da, wer wirkt wie, wer hat wo welche Macht und welchen Einfluss, wie wird da gespielt?

Natürlich könnte ich mehr Postulate aufstellen, wie es braucht mehr Glauben oder mehr soziales Engagement. Diese Postulate haben wir in den vergangenen 40 Jahren immer aufgestellt und es hat sich trotzdem nicht so viel geändert. Bei René Descartes gibt es den Hinweis, dass man in Übergangszeiten nicht die ganz festen Lösungen haben kann. Es braucht den Mut zum Fragment, den Mut zum Vorläufigen.Wir wissen zum Beispiel zurzeit noch nicht, wie die Kirchengestalt in 15 Jahren ausschaut. Ich weiß nicht, wie die Pfarren funktionieren werden. Es braucht die positive Überzeugung, dass es Leute gibt, die vom Evangelium ergriffen sind, die glauben wollen und es in Gemeinschaft tun wollen. Und die das auch für andere tun wollen. Wie viele das sein werden, weiß ich nicht. Ich bin überhaupt nicht sicher, wie stark die öffentliche Bedeutung der Kirche in Oberösterreich in 20 Jahren sein wird. Ich bin aber schon überzeugt, dass das Evangelium nicht vergessen wird. Dazu braucht es Bildungsprozesse. Das ist auch eine Grundfrage für uns. Die Zukunft der Kirche liegt zwischen den beiden Polen Spiritualität und Solidarität. Bei der Spiritualität geht es um die Frage, wo sind meine Wurzeln, wo liegt meine Nahrung, was ist meine Grundausrichtung, was trägt mich? Bei der Solidarität stellt sich die Frage, was ist das Gescheitere, der Egoismus oder auch das Dasein für andere?