Chronik/Oberösterreich

"Bin der Eroberer des Nutzlosen geblieben"

Reinhold Messner ging mit fünf Jahren 1949 zum ersten Mal auf den Berg. Er unternahm mehr als hundert Reisen in die großen Gebirge und Wüsten der Welt. Es gelangen ihm viele Erstbegehungen, die Besteigung aller 14 Achttausender und eine Längsquerung Grönlands. Heute widmet er sich vor allem seinen Bergmuseen in Südtirol.

KURIER: Sie haben sich bei Ihren Besteigungen und Abenteuern extremem Leid, Belastungen und Gefahren ausgesetzt. Sie schreiben in Ihrem Buch "Überleben" über die Besteigung am Nanga Parbat mit Ihrem Bruder: "Günther war an dem Punkt des Leidens angekommen, dass ihn nur die Vorstellung des Todes ohne weitere Schmerzen zu trösten vermochte." Als normal tickender Mensch fragt man sich, warum tut man sich das freiwillig an?

Reinhold Messner: Es braucht keine Rechtfertigung. Einem Laien ist das auch ganz schwer zu erklären. Die Probleme sind ja nicht nur, dass ich die Zehen verloren habe und der Bruder tot ist. Es leiden meine Eltern, vor allem meine Mutter, und die Geschwister. Nach dem Tod meines Bruders haben mich alle gedrängt, das Bergsteigen aufzugeben. Ich habe das damals überlegt. Auch ich war von Trauer erfüllt. Hätte ich es aufgegeben, hätte ich meinen Bruder nicht lebendig machen können. Aber ich war damals voller Träume. Wir hatten gemeinsam jede Menge Projekte und ich habe damals gesagt, ich werde sie entweder allein oder mit anderen Partnern realisieren. Ich wäre sonst ein Leben lang ein Mensch geblieben, der diesen Träumen nachgehangen hätte.

Aber die Realisierung der Träumebedeutet Schmerz, Leid und Gefahr.

Wir gehen nur los, wenn wir das Gefühl haben, wir schaffen den Gipfel. Ich wäre dumm, wenn ich sagen würde, ich kann dabei nicht umkommen. Es gehört dazu. Wir haben ein Ziel, nur nicht umzukommen. Es ist eine Kunst, nicht umzukommen, weil es große Gefahren und Anstrengungen birgt. Man kann auch verrückt werden. Es gibt viele solche Fälle.

Es ist immer ein Grenzgang.

Nachdem das Bergsteigen vielfach Sport und Tourismus geworden ist, habe ich das Wort Grenzgang erfunden. Die sportliche Seite ist für mich völlig sekundär. Mir geht es nicht darum, schneller auf den Hügel hinaufzulaufen.

Das gravierendste Ereignis war für Sie der Tod Ihres Bruders?

Ja, das hat mich am meisten geprägt. Es hat mein ganzes Leben umgekrempelt. Ich war vorher ein Kletterer und nachher ein Abenteurer. Ich war ein sehr guter Kletterer und habe viele Erstbegehungen gemacht. Meine Leidenschaft waren die senkrechten Felsen, wo niemand hinaufkam. Ich habe Erstbegehungen gemacht, die lange Zeit nicht wiederholt werden konnten. Das war der Stimulus. Dann bin ich ein Spezialist für große Höhen geworden, weil ich mit meinen kaputten Füßen, mir fehlen sieben Zehen, nicht mehr so gut klettern konnte wie vorher.

Nach dem Bergsteigen waren Sie mehrere Jahre Abgeordneter im Europaparlament. Wie sehen Sie die Lage Europas?

Zum Glück haben wir Europa. Abgesehen davon, dass jetzt mit Angela Merkel wieder eine klare Stimme da ist, ...

Sie finden es gut, was sie macht?

Das, was sie in der Ukraine macht, ja. Man hat nach der Wende durch die Nato-Erweiterung gegenüber Russland Fehler gemacht.Es gefällt mir gar nicht, dass die Amerikaner die konkrete Auseinandersetzung wollen. Wenn wir die EU nicht hätten, hätte Europa keine Stimme. Die EU ist wichtig, weil wir in der Sozial- und Öko-Politik den anderen weit voraus sind. Nur als gemeinsames Europa haben wir eine Chance. Die EU ist ein großartiges Friedensmodell. Wir haben nun erstmals am Rande der EU einen Krieg, wobei man schon sagen muss, dass Wladimir Putin lügt, was das Zeug hält. Wie alle, die einen Krieg anfangen. Vielleicht ist es jetzt doch befriedbar. Aber vielleicht auch erst, bis sein Korridor bis zur Krim offen ist. Es gibt in Ostukraine viele Russen. Man sollte ihnen die Autonomie geben. Ich meine, dass Russland zu Europa gehört, so wie das Peter der Große gesehen hat.

Wir haben in Südtirol ein ganz gutes Autonomiemodell, aber Italien ist so pleite, dass auch wir in Südtirol früher oder später den Kopf abgedreht kriegen. Wir haben keine Finanzautonomie. Der italienische Ministerpräsident Rienzi ist ein Freund von unserem Landeshauptmann. Sie haben es jetzt geschafft, dass unser Steuergeld in Bozen bleibt. Nur das, was wir für den Gesamtstaat zahlen müssen, wird nach Rom überwiesen. Bisher haben sie das Geld kassiert und es war weg. Wir in Südtirol haben eine ähnliche Wirtschaft wie in Österreich und Deutschland. Wir sind erfolgreich im Tourismus. In Italien ist er eingebrochen, bei uns wächst er. Und wir haben ein paar Firmen, die Weltniveau haben. In Italien ist der gesamte Export weggebrochen. Italien hat in der Globalisierung den Anschluss an die Weltwirtschaft verloren. Bei uns wurde den Menschen in den 70er- und 80er-Jahren alle sozialen Errungenschaften versprochen. Mit 40 in die Rente, ähnlich wie in Griechenland. Das geht heute nicht mehr.

Welche Schritte sind in Europa nun zu setzen?

Dass wir in allen Staaten eine ähnliche Steuer- und Wirtschaftsgesetzung haben. Das hätte man schon mit der Einführung des Euro machen müssen. Europa muss das werden, was Deutschland ist. Es geht um das Europa der Regionen. Die Nationalstaaten sind ja alle Fehlgeburten. Aber wir sollten sie als Einheiten nutzen, um zum gemeinsamen Ganzen zu kommen. Auch wenn die Bürger schimpfen, sollten die Nationalstaaten Macht an Brüssel und an die Regionen abgeben. Zum Beispiel an das alte Tirol. Dann gäbe es zwei starke Zentren: Europa und die Regionen. Die EU darf kein Staat werden, sondern ein Gebilde ähnlich wie es die Deutschen gemacht haben, mit starken Bundesländern. Also eine Art Bundes-Europa. Das wird auch kommen, aber ich werde es nicht mehr erleben.

Bemerkenswert sind auch Ihre Gedanken zur Religion. Religion ist für Sie eine Erfindung des Geistes der Menschen.

Das ist auch nachgewiesen. Alle Religionen sind vom Menschen erfunden worden. Alle Religionsstifter haben sich des Höheren bedient. Moses kommt mit den zehn Geboten vom Berg Sinai herab. Er hat auch das Verbot ausgesprochen, dass keiner da hinaufgehen darf, sonst sieht er, dass da oben nichts ist. Das sind gute Geschichten, im Grunde sind es Berggeschichten. Auch Mohammed steigt auf den Berg und bekommt dort die Eingebung.

In Bezug auf die Gottesfrage sind Sie offen. Sie sprechen von Wiedergeburt. Tendieren Sie zum Buddhismus?

Nein. Der Buddhismus als Weltanschauung wäre für die heutige Zeit besser. Der Satz der Christen Macht euch die Welt untertan ist eine Aussage, die dazu geführt hat, dass die Erde auf Teufel komm raus ausgebeutet wird, dass das Klima verändert wird. Mit der Erwärmung haben wir die Gletscher vertrieben. Der Satz der Mensch ist die Krone der Schöpfung ist auch eine Aussage, die ich nicht unbedingt teile. Wir haben uns zur Krone der Schöpfung gemacht, weil wir den Tieren mit unseren Waffen und Geschwindigkeit überlegen sind.

Woran glauben Sie?

Ich lasse das offen. Wir wissen nicht, was jenseits unseres Lebens passiert. Für das Göttliche haben wir keinen Intellekt und keine Sinne. Der Mensch soll sich ja nicht aufplustern und sagen, er kennt das Göttliche, denn da macht er sich selbst zu Gott, was die Hybris schlechthin ist. Weil die Menschen teilweise die weltliche und kirchliche Macht nicht trennen können, haben wir wieder riesige Probleme. Siehe IS im Nordirak und Syrien.

Sie waren mehrfach in Grenzsituationen. Wie haben Sie sie erlebt?

Da spielen weder das Göttliche noch das Jenseitige eine Rolle. Der Selbsterhaltungstrieb ist unser größter Trieb. Sonst wäre die Menschheit ausgestorben. Danach kommt der Sexualtrieb, denn sonst würde die Gruppe aussterben. Das ist alles in unsere Gene hineingelegt. Wenn ich mit den Biologen und Genetikern rede, sage ich mir, es ist unmöglich, dass diese Ordnung und dieses feinstoffliche System von sich aus entstanden ist.

Nach den vielen Besteigungen und Gipfelstürmen sind Sie nun am Abstieg. Wie geht es Ihnen dabei?

Es ist angenehm. Ich habe keine Verpflichtung, morgen noch eines draufzusetzen. Ich komme nicht einmal mehr in Versuchung, in der Sparte, wo ich tätig war, mich wichtig zu machen.

Aber Sie verfolgen doch weitere Projekte.

Ich mache nur mehr das, was ich gern tue. wie zum Beispiel meine Museen. Die Familie ist inzwischen zentral in meinem Leben geworden. Das war ja früher nur so nebenbei. Ich freue mich über gute Gespräche. Ich habe weltweit sehr gute Kontakte zu anderen Abenteurern und Künstlern.

Sie schreiben, dass Sie immer dorthin gegangen sind, wo die Widerstände am größten waren.Der Normalbürger weicht den Widerständen aus.

An Widerständen kann man wachsen. Das kam durch unser Leben als Kind. Wir sind in einer sehr engen Welt aufgewachsen. Klettern war in meiner Kindheit eine Sünde.

Sie äußern sich sehr positiv über die Sherpas. Was fasziniert Sie an ihnen?

Sie sind ein Volk aus Tibet, das sich in Nepal festgesetzt hat. Sie haben um 1500 den Osten von Tibet verlassen, es waren rund 20.000 Leute, und sie sind 3000 km marschiert. Dieser Marsch dauerte 18 Jahre. Ausgelöst wurde die Auswanderung durch religiöse Spannungen. Ich möchte das verfilmen. Ich bin dieser Wanderung nachgegangen. Es geht über 5000 Meter hohe Pässe. Sie haben Nepal vom Norden her, über den Himalaja besiedelt. Heute sind die Sherpas die reichsten Nepalesen. Sie haben Flugzeuglinien und Hubschraubergesellschaften. Ein Spitzensherpa verdient bei einer Everest-Expedition so viel wie ein Nepalese im ganzen Leben. Das ist auch richtig, denn sie halten den Kopf hin. Sie stehen um Mitternacht auf, kochen für die Weißen den Tee, dann geht es los.

Deshalb wird der Everest nicht mehr für große und gute Expeditionen freigegeben, denn dort läuft das große Geschäft. Man muss sich das vorstellen. 500 Sherpas bauen innerhalb von eineinhalb Monaten eine Piste vom Basislager bis zur Everest-Spitze, wo man raufrennen kann. Da sind Seile, Brücken und Leitern, wo es steil ist. In jedem Lager ist mindestens ein Koch und ein Arzt und es gibt Sauerstoffdepots. Sonst würden die Touristen ja nicht hochkommen.

Sie haben Ihrem Buch "Überleben" das Zitat vorangestellt "Alle kennen den Nutzen des Nützlichen, aber niemand versteht den Nutzen des Nutzlosen". Ist es nutzlos, den Everest zu besteigen?

(lacht) Es ist nutzlos. Ich bin der Eroberer des Nutzlosen geblieben. Aber es geht um die die Quelle der Erfahrung. Das ist das Nützliche. Ich nutze das Nutzlose. Die Felsen, die 8000er, sind für den Menschen nutzlos. Wenn ich dorthin gehe, nutzt das der Menschheit gar nichts. Aber ich katapultiere mich in eine Welt zurück, wie sie einmal war, als die Menschen gerade entstanden sind. Das war die schönste Zeit für die Menschheit, als sie gelernt hat, die Erde zu ertasten und auf ihr zu leben.

Diese Möglichkeiten sind uns alle abhanden gekommen. Wir leben heute alle mit dem Computer und dem Handy, Gerätschaften, die es alle vor 30 Jahren nicht gab.