Chronik/Oberösterreich

„50 Prozent der Bevölkerung sind übergewichtig"

Jedes Jahr sterben 10.000 Patientinnen und Patienten an den Folgen von Diabetes. Das ist jeder achte Todesfall. Für Univ. Prof. Martin Clodi wäre dieses Leid vermeidbar. Der 59-Jährige ist Primar der Internen Abteilung am Konventspital der Barmherzigen Brüder in Linz und Präsident der österreichischen Diabetesgesellschaft.

Diabetes ist zur Volkskrankheit geworden

90 bis 95 Prozent aller Patienten mit Diabetes in Österreich sind Diabetes Typ 2. „Das, was heute der Fall ist, ist eine Volkskrankheit. Wir bewegen uns zu wenig und wir sind zu dick. 50 Prozent der Bevölkerung ist übergewichtig.“ Das Zuviel an Bauchfett und der Mangel an Muskeln führe dazu, dass Stoffe produziert werden, die dem Insulin entgegenwirkten, und es komme zu ersten Schädigungen.

Hinken den USA fünf Jahre hinterher

Clodi verweist auf eine neue Erhebung in den USA – Österreich hinkt den USA rund fünf Jahre hinterher. „Im Jahr 2000 hatten 9,9 Prozent der amerikanischen Bevölkerung Typ 2 Diabetes. 2018 waren es 14,3 Prozent. Das ist ein Plus von beinahe 50 Prozent. Bei uns ist es ganz ähnlich. Wir sind derzeit bei einem Prozentsatz zwischen acht und zehn Prozent. Man kann sagen, in den USA hat jeder Dritte über 65 Jahren und jeder Fünfte über 45 Jahren Diabetes. Bei uns dürften es zehn bis 20 Prozent weniger sein.“

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KURIER: Übergewicht und Bewegungsmangel sind also die Ursachen.

Martin Clodi: Übergewicht beginnt sehr früh. Bei einem Body-Mass-Index von 25. Bei einem Index von 30 und mehr reden wir von Fettleibigkeit (Adipositas). Sie betrifft rund 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung. Der geburtenstärkste Jahrgang ist 1963. Da sind 140.000 Kinder geboren worden. Sie kommen nun in ein Alter, in dem Diabetes relevant wird. Es ist nicht nur Diabetes allein, an der man leidet, es kommen Herzinsuffizienz und Gelenksbeschwerden hinzu. Die Krebshäufigkeit steigt mit Diabetes und Adipositas auch an.

Ernähren sich die Menschen falsch?

Wenn sie übergewichtig sind, essen sie zu viel. Wir haben bis jetzt noch nicht das Gen, das besagt, wir sind deswegen dick, weil wir genetisch die Prädisposition haben, dick zu werden.

Die erste Maßnahme ist also, abzunehmen?

Ja. Ab einem gewissen Alter sollte man nur mit Bewegung abnehmen. Denn der Körper nimmt sehr schnell nur das, was er leicht bekommt, und das ist der Muskel und Eiweiß. Viele Menschen nehmen mit Crash-Diäten sehr viel ab. Das Gewicht wird zwar auch weniger, aber sie verlieren sehr viel an Muskelmasse. Das ist schlecht. Es gibt viele verschiedene Diäten. Wir glauben, dass das mediterrane Essen, die italienische Art zu essen, das Richtige ist. Da gehören Kohlenhydrate dazu. Vollkornnudeln, Gemüse, pflanzliche Fette.

Wir ernähren uns also falsch?

Viele essen zu viel Fett. Möglicherweise auch zu viel Fleisch oder Proteine. Aber das Hauptproblem der falschen Ernährung ist, dass wir konstant zu viel essen. Wenn man ein Kilogramm an Fett zunimmt, bedeutet das, dass man ein Monat lang 300 Kalorien pro Tag zu viel gegessen hat. Das ist nicht viel. Das ist ein Bier. Aber über das Jahr sind es dann 12 Kilogramm. Als ich in den 1990er-Jahren Studien mit Typ 2-Patienten gemacht habe, hatten diese im Schnitt einen Body-Mass-Index von 28. Heute liegt er zwischen 30 und 32. In den vergangenen 20 Jahren ist in Österreich das Durchschnittsgewicht um sechs Kilogramm gestiegen.

Es gibt intensiv beworbene Diäten.

Alle Diäten funktionieren im Grunde über eine Kalorienrestriktion. Man bekommt ein Schema vorgegeben, durch das man weniger Kalorien zu sich nimmt. Wenn Sie täglich 300 Kalorien weniger essen, haben Sie nach einem Monat ein Kilogramm weniger. Die Wahrheit ist, dass es keine Diät gibt, bei der Sie essen können, so viel Sie wollen, und trotzdem abnehmen.