Wo die Sonderschule nicht existiert
Behinderte und nicht behinderte Kinder besuchen gemeinsam Kindergarten, Volksschule und Hort. Niemand muss die Heimatgemeinde verlassen, um in einer Sonderschule oder gar in einem Behindertenheim unterrichtet und betreut zu werden. Was vielerorts noch als Utopie angesehen wird, ist in Wiener Neudorf, NÖ, längst Wirklichkeit. Inklusion lautet das Zauberwort (siehe Grafik).
"Bei uns werden die Kinder in den Mittelpunkt gerückt und gefördert. Bei uns wird nicht in behindert und nicht behindert unterschieden", erklärt Vizebürgermeister Josef Tutschek den eingeschlagenen Weg.
Der einstige Bezirksschulinspektor ist eine der treibenden Kräfte hinter dem Inklusionsprojekt. "Es ist auch in Niederösterreich so, dass man Kinder mit Behinderungen seit Jahrzehnten in eigene Einrichtungen steckt", sagt Tutschek.
Mitbestimmung
In seiner Heimatgemeinde hat man seit 2006 einen ganz anderen Weg eingeschlagen. Eben: Die Inklusion, deren Konzept davon ausgeht, dass jeder Mensch unterschiedlich ist und jeder mitgestalten und mitbestimmen kann. Im Gegensatz zur Integration geht es nicht darum, bestimmte Gruppen an die Gesellschaft anzupassen.
Etwa 20 Kinder mit "Förderbedarf" besuchen die Volksschule in Wiener Neudorf, rund 15 die Kindergärten. Dazu zählen nicht nur behinderte Kinder, sondern auch solche "mit sogenannten Verhaltensauffälligkeiten", wie Claudia Müller, eine ehemalige Volksschullehrerin und Vorreiterin bei Integrationsklassen, sagt. Sonderschule gibt es keine.
Wachkoma-Schülerin
Sie selbst habe unter anderem ein Mädchen mit Downsyndrom und ein Wachkoma-Mädchen in ihrer Klasse gehabt. Dazu einen Buben, dem Hyperaktivität diagnostiziert worden war. "Das hat reibungslos funktioniert", erinnert sie sich. "Auch Sandra, das Mädchen im Wachkoma, war ein Teil der Klasse." Gemeinsam mit einer zweiten Kollegin habe sie die Klasse unterrichtet. "Und am Vormittag hatten wir eine zusätzliche Kraft."
"Normale" Kinder erfahren durch den Kontakt mit behinderten Kindern laut Müller mehr soziale Kompetenz. Jene mit Förderbedarf würden durch den Umgang mit nicht behinderten Mitschülern wesentlich mehr und besser lernen als in Sonderschulen unter ihresgleichen.
So wird dies in Wiener Neudorf auch heute, mehr als 20 Jahre nach der Gründung der ersten Integrationsklassen gelebt. "Derzeit sind bis zu fünf Kinder mit besonderem Förderbedarf in einer Klasse", sagt Volksschul-Direktorin Marion Brandl. "Und in jeder Klasse sind zwei Pädagoginnen." Auch der Hort wird inklusiv geführt. Auf Wunsch wird dort Betreuung bis 18 Uhr angeboten.
Forschung
Das Wiener Neudorfer Projekt Inklusion weckt seit geraumer Zeit das Interesse der Wissenschaft. In der Vorwoche war eine Abordnung der Hochschule Luzern zu Besuch; Austausch gibt es mit der Partnerstadt Bonn und mit der Pädagogischen Hochschule Baden wurde ein eigener Hochschullehrgang "kommunale Bildung" ins Leben gerufen.
Inklusion wird in Wiener Neudorf umfassend gesehen. So wird versucht, Pensionisten einzubinden. "Ein Herr kommt ein Mal pro Woche in eine Kindergarten-Gruppe und liest vor, bastelt oder spielt mit den Kindern", sagt Silvia Schneider, Leiterin des Kindergartens Europaplatz.
Eine pensionierte Lehrerin wiederum gibt einem türkischen Buben – und mittlerweile auch seiner Mutter – Nachhilfe in Deutsch. Das alles geschieht freiwillig und kostenlos. "Die Menschen machen das mit viel Engagement." Auch die angestellten Kindergarten-Pädagoginnen, würden mehr Zeit investieren, als ihnen bezahlt würde. "Worum es uns geht, ist die Wertschätzung. Da genügt oft ein Danke", sagt Schneider.
Bürgermeister Christian Wöhrleitner, schon vor seiner Zeit als Kommunalpolitiker ein Verfechter der Einbindung behinderter Menschen in den Alltag, will Inklusion weiter vorantreiben. Er versucht bis 2020 eine eigene Mittelschule im Ort zu etablieren, um die Kinder auch nach der Volksschule nicht in Nachbargemeinden schicken zu müssen. Zudem gibt es Pläne für ein Wohnbau-Projekt: Behinderte und nicht behinderte Menschen sollen gemeinsam in einem Wohnhaus leben.
Kooperationen werden auch mit den zahlreichen Firmen im Wiener Neudorfer Industriezentrum gesucht, um Schulabsolventen mit Behinderung künftig auch eine Einbindung in die Arbeitswelt zu ermöglichen.
Win-win-Situation
Das alles sei in einer Gesamt-Kosten-Nutzen-Rechnung nur ein Gewinn für Staat und Gesellschaft, sagt Vizebürgermeister Tutschek. "Die Menschen mit Behinderung können selbst für ihren Unterhalt sorgen und müssen nicht vom Staat durchgefüttert werden." Zudem zahlen sie dann für die Pensionskassen ein.
Überhaupt sei Inklusion, wie in Wiener Neudorf betrieben nicht teurer, als die Abschiebung behinderter Kinder in Sonderschulen oder betreute Heime. "Im Gegenteil – das ist viel billiger, als ein Platz in einem Heim."
Kritik eines ehemaligen Mitarbeiters des Internats der Waldschule in Wiener Neustadt (der KURIER berichtete), hat eine Diskussion über Sondereinrichtung für behinderte Kinder ausgelöst. Dabei gibt es in ganz Österreich zahlreiche Beispiele, wie etwa in Kärnten oder in Linz, wie Inklusion auf breiter Ebene funktioniert. Vorreiter war hier der Bezirk Reutte in Tirol.
Der Vater eines behinderten Kindes hat 1985 lange gekämpft, damit sein Sohn in eine Volksschule aufgenommen wird. Nach zähem, langem Ringen ist es ihm gelungen. Obwohl Ärzte und Lehrer ihm suggerierten, sein Kind könne niemals in einer normalen Schule unterrichtet werden und sei in einer Sondereinrichtung besser aufgehoben. Unterstützung hat er damals durch Norbert Syrow, den Direktor der Sonderschule, erhalten.
Dieser tat in Folge etwas Ungewöhnliches: Er arbeitete daran, seinen Arbeitsplatz abzuschaffen. Mittlerweile gibt es im Bezirk Reutte keine Sonderschule mehr. Alle behinderten Kinder können die Regelschule besuchen.