Suizid von Flüchtlingsbub: „Hier war Gefahr im Verzug“
Es ist ein besonders tragischer Fall – jener vom elfjährigen Flüchtlingsbuben aus Afghanistan, der sich Mitte November in einer Flüchtlingsunterkunft der Diakonie in Baden das Leben nahm. Jetzt steht fest: Die Bezirkshauptmannschaft als zuständige Behörde hätte die Obsorge für die sieben Geschwister im Alter von neun bis 21 Jahren übernehmen sollen. Zu diesem Schluss kommt die Volksanwaltschaft, die ein Prüfverfahren eingeleitet hatte.
Wie berichtet, soll der Elfjährige besonders viel Verantwortung in der Familie übernommen haben, weil er am besten Deutsch sprach. Auffällig soll aber das Verhalten seines neunjährigen Bruders mit Down Syndrom gewesen sein: Mehrmals soll er von der Schule nicht abgeholt worden sein, einmal soll er allein nach Wien gefahren, ein anderes Mal nackt auf der Straße gestanden haben.
Kritikwürdig
Laut Volksanwalt Günther Kräuter seien zwei Punkte besonders kritikwürdig: Dass die Obsorge über sieben Geschwister – darunter eben jenes mit Down Syndrom – an den 23 Jahre alten ältesten Bruder übertragen wurde, hält Kräuter für „bedenklich“. Vor allem, weil es mehrere Gefährdungsmeldungen gab und sich auch der damalige Flüchtlingskoordinator Christian Konrad einschaltete. „Hier war Gefahr im Verzug. Die Behörde hätte einschreiten müssen“, sagt Kräuter. Weil der 23-Jährige mit der Fürsorgepflicht für seine Geschwister „offensichtlich überfordert“ gewesen sei, hätte der Neunjährige „gesondert untergebracht“ werden müssen.
Das wiederum habe aber die Familie nicht gewollt, hatte Bezirkshauptmann Heinz Zimper stets betont. Stattdessen wurde dem 23-Jährigen eine Familienhilfe zur Seite gestellt. Laut Land NÖ habe man damit die Situation in den Griff bekommen.
Für den Suizid des Elfjährigen könne laut Kräuter aber weder die BH, noch das Land als Kinder- und Jugendhilfeträger zur Verantwortung gezogen werden. „Es gab keinerlei Hinweise auf vorangegangene Suizid-Andeutungen des Buben.“
Gesetzeslage
Peter Rozsa von der Kinder- und Jugendhilfe des Landes NÖ betont allerdings noch einmal, dass die geltende Gesetzeslage die Übertragung der Obsorge auf die Behörde nur als letztes Mittel vorsieht. „Man braucht eine massive Kindeswohlgefährdung, um die Obsorge abzuerkennen“, sagt er. Nach dem Tod des Buben hatte Rozsa angekündigt, die Situation von minderjährigen Flüchtlingen in NÖ überprüfen zu lassen. Nun gibt es erste Ergebnisse. „In vier Fällen liegt die Obsorge bei der Kinder- und Jugendhilfe, in mehr als zehn Fällen bei erwachsenen Verwandten.“ Dazu würden Sonderfälle kommen, bei denen die Obsorge bei der Behörde, die Pflege- und die Erziehungspflichten bei Verwandten liegen.
Kräuter empfiehlt jedenfalls eine Gesetzesänderung, wonach die Behörde für minderjährige Flüchtlinge ohne Obsorgeberechtigte vorerst automatisch die Betreuung übernimmt. Laut Rozsa arbeitet derzeit ein Arbeitskreis unter Leitung des Justizministeriums an neuen Regelungen.