Chronik/Niederösterreich

Gerasdorf: Opfer wurde vom Verfassungsschutz als gefährdet eingestuft

Der am Samstagabend in Gerasdorf erschossene gebürtige Tschetschene Martin B. ist kein Unbekannter. Monatelang hat er zuletzt die Führung der russischen Teilrepublik Tschetschenien in einem Videoblog beschimpft. Eigenen Angaben zufolge soll er aber auch als fragwürdiger Vermittler von Mordaufträgen agiert und seit Jahren mit dem Verfassungsschutz in Wien zusammengearbeitet haben.

Angeblich Nervenzusammenbruch

Der ursprünglich als Mamichan U. geborene Mann, der als „Anzor aus Wien“ auftrat und zuletzt über einen österreichischen Fremdenpass auf den Namen Martin B. verfügte, war in den letzten drei Monaten eines der bekannten tschetschenischen Gesichter in Österreich. Seit April hatte er insgesamt 29 Videos auf seinem Youtube-Kanal veröffentlicht, in denen er insbesondere den tschetschenischen Potentaten Ramsan Kadyrow und dessen Familie wüst beschimpfte. In der tschetschenischen Emigration kursierte das unbestätigte und wahrscheinlich auch falsche Gerücht, Kadyrow habe wegen Ansor kürzlich sogar einen Nervenzusammenbruch erlitten.

Doch schon vor Beginn seiner Karriere als Videoblogger war der Mann in der tschetschenischen Community sowie in Geheimdienstkreisen bekannt gewesen. Nachdem der ehemalige Polizist aus Tschetschenien 2005 nach Österreich gekommen war, wurde er im September 2007 als Konventionsflüchtling anerkannt. Seine Kontakte in der tschetschenischen Community führten dazu, dass er nach der spektakulären Ermordung des Asylwerbers Umar Israilov im Jänner 2009 in Wien auch ausführlich von Verfassungsschützern als Zeuge befragt wurde. Er stammte nicht nur aus dem selben Ort wie Israilov, er kannte auch einige der an dessen Ermordung beteiligten Täter gut. In einem vorliegenden Aktenvermerk aus dem November 2009 führte das Wiener Landesamt für Verfassungsschutz einen Mamichan U. mit dem Geburtsdatum des nunmehr Getöteten als „Gefährdete Person der tschetschenischen Diaspora“.

Martin B. zu Haftstrafe verurteilt

In einem Anfang Juni veröffentlichten Interview hatte der mittlerweile in Martin B. Umbenannte einem ukrainischen Journalisten detailliert von Aktivitäten der letzten Jahre berichtet. Die Rede war etwa von fragwürdigen Vermittlerdiensten bei Mordaufträgen aus Tschetschenien und eine Zusammenarbeit mit österreichischen Geheimdiensten seit dem Jahr 2008. Im Zusammenhang mit einem Gewaltdelikt war der 43-Jährige vor einiger Zeit auch zu einer Haftstrafe in Österreich verurteilt worden.

Manche seiner Behauptungen aus dem Interview lassen sich durchaus verifizieren. So wusste Martin B. nachweislich vorweg von einem geplanten Anschlag auf den damaligen ukrainischen Parlamentsabgeordneten Ihor Mossijtschuk, der im Oktober 2017 im Unterschied zu einem Leibwächter und einem Passanten eine Bombenexplosion knapp überlebte. Martin B. hatte vor einem Anschlag gewarnt, was damals in der Ukraine aber nicht rechtzeitig ernst genommen wurde. Ob österreichische Verfassungsschützer ihre ukrainischen Kollegen über den geplanten Anschlag informierten, ist unklar. Martin B. wurde im ukrainischen Ermittlungsverfahren jedenfalls als Zeuge geführt und sollte über den Amtshilfeweg in Österreich ein weiteres Mal vernommen werden.

Hinter dem gegen ihn gerichteten Anschlag vermutete der bekannte ukrainische Nationalist Mossijtschuk, der später Martin B. auch in Wien traf, Auftraggeber im Umfeld von Ramsan Kadyrow. Ähnliche, freilich unbewiesene Spekulationen kursieren in der tschetschenischen Community derzeit auch nach dem Mordanschlag auf Martin B.