Keine Chance dem Weihnachts-Streit
Von Michael Berger
In vielen Familien kommt es unter dem Christbaum zum Streit. Diese ungewollte, aber traurige Bescherung ist oft jahrelang nicht zu kitten und verschlimmert die Irritationen weiter. Der Chefarzt des Psychosozialen Notdienstes, Psychiater Georg Psota, weiß, wie belastend die Weihnachtsfeiertage sein können, und erklärt Tipps und Tricks, um das Familien-Desaster zu verhindern.
KURIER: Am Heiligen Abend kommt es unter Verwandten oder guten Freunden der Familie gerne zu heftigen Diskussionen. Das ist sicher nicht geplant. Warum gibt es trotzdem so oft Ärger, der sogar in Streit ausarten kann?
Georg Psota: Perfektionismus und die hohen Erwartungen spielen dabei eine entscheidende Rolle. Stundenlang wurde gekocht, tagelang das Fest vorbereitet. Alles muss perfekt sein. Das sorgt automatisch für Spannungen.
Oft sehen sich Familienmitglieder durch ihre verschiedenen Wohnorte Monate nicht. Am Heiligen Abend sind plötzlich alle beisammen. Ein programmierter Krisenherd?
Wenn man organisiert ist, macht man sich schon im Vorfeld aus, welche Themen an diesem Tag tabu sein sollten, und welche Probleme durchaus diskutiert werden können. Das kann man mit wenigen Anrufen und einigen Mails ganz einfach in die Wege leiten.
Aber die in Watte gepackte, eventuell vorgetäuschte Harmonie wird nicht lange halten, wenn ernsthafte Probleme anliegen ...
Große Erörterungen der familieninternen Konflikte haben beim Weihnachtsfest wenig verloren. Gelebte Diplomatie passt zum Fest. Sollen Probleme seriös gelöst werden, geht das nach einem schönen, friedlichen und lustigen Heiligen Abend wahrscheinlich leichter.
Nein, aber es ist zuträglich, wenn quasi ein oder zwei Harmonie-Manipulatoren unter den Gästen sind. Eine besinnliche Atmosphäre tut gut und bringt die Feier auf einen guten Weg. Die Teilnehmer sollen den Abend genießen. Und es soll gelacht, geliebt und nicht gestritten werden. Positive Emotionen helfen. Und noch ein entscheidender Tipp: Gastgeber, Köche und Köchinnen dürfen ruhig für ihre Mühen gelobt werden.
Abseits der Familien-Problematik suchen immer mehr Menschen während der Weihnachtsfeiertage und danach Hilfe bei der Telefonseelsorge und bei psychosozialen Notdiensten. Ein Zeichen unserer Zeit?
Wir spüren heuer einen merkbaren Anstieg. Es schwingt verstärkt Angst in der Gesellschaft mit. Die Arbeitslosigkeit steigt und es gibt immer mehr einsame Menschen.
Aber die vermehrten Anrufer sind ja nicht alle nur arbeitslos und einsam. Welche Gründe stecken dahinter?
Panikattacken, Erschöpfungszustände oder Schlafstörungen sind kein gesellschaftliches Tabu mehr. Man redet darüber. Auch Psychologen werden verstärkt konsultiert. Die Beschleunigung in der Arbeitswelt spielt hier eine Rolle. Das bestätigen EU-Studien.
Was empfehlen Sie Menschen, die glauben, in einer psychischen Krise zu sein?
Das Feedback der Umgebung wahrnehmen und überdenken. Der nächste Schritt führt zum Hausarzt. Und es gibt Grenzen des Machbaren. Es ist nicht alles zu schaffen.
Im Advent, zum Heiligen Abend und in den Tagen nach dem Fest spitzen sich menschliche Krisen merklich zu.
Todesfälle in der Familie, Krankheit und niederschmetternde Diagnosen, Arbeitslosigkeit, Einsamkeit, finanzielle Schieflagen oder Streit in der Familie am Heiligen Abend überschreiten dieser Tage die mentale Belastbarkeit Tausender Menschen.
Zu den Weihnachtsfeiertagen hat die österreichische Telefonseelsorge ( 142, bundesweit) Hochbetrieb. Sie ist auch am Heiligen Abend in allen Bundesländern besetzt. Ein Großteil der Anrufer sucht im Gespräch neben Hilfe und Rat einen Menschen, der endlich freiwillig zuhört, ohne zu kritisieren.
Anonymität ist das Fundament der bundesweiten Telefonseelsorge: „Es ist gut, dass ich mein Gesicht nicht zeigen muss. Denn so kann ich es auch nicht verlieren. Das sagte kürzlich eine Anruferin zu mir. Damit ist die Wichtigkeit der Anonymität erklärt. Nur so viel; die Dame trieb einen Keil in ihre Familie. Sie litt sehr darunter“, beschreibt Marlies Matejka, Leiterin der Telefonseelsorge eines ihrer Tausenden Telefonate.
Besonders tragisch sei es, wenn unerwartete Todesfälle Krisen auslösen. „Ich hatte etwa um fünf Uhr Früh ein Gespräch, wo eine Mutter erzählte, dass ihre Tochter kürzlich Selbstmord begangen hatte“, gibt Matejka Einblick in den extrem sensiblen Telefondienst. Zuletzt häuften sich verzweifelte Anrufe wegen Mobbings, Missbrauchs in der Familie, plötzlicher Arbeitslosigkeit und nicht zuletzt wegen des gesteigerten Tempos – im Privatleben wie im stressigen Job.
Hilfe bei Suizid-Gefahr
Auch mit Selbstmord-Ankündigungen müssen die Helfer am Telefon umgehen: „Wir organisieren professionelle Hilfe, fragen aber den Anrufer, ob er das wünscht. Eine Alarmierung der Behörden ist dann möglich. Hier bewegen wir uns im Spannungsfeld zwischen Anonymität und unterlassener Hilfeleistung“, erklärt Matejka.
In der Telefonseelsorge arbeiten 700 Ehrenamtliche, darunter Lehrer, Banker und Krankenschwestern, Studenten und Handwerker. Zum Telefondienst werden sie erst nach einem Jahr Ausbildung zugelassen.
130.000 Anrufe werden pro Jahr angenommen. Was die Helfer hören, ist oft schwer zu verarbeiten. Um die Belastung zu minimieren, sind monatliche Supervisionen mit Kollegen vorgeschrieben.