Verlassene Orte: Der Reiz des Gewesenen
Von Mario Kopf
Eine verstaubte Schreibmaschine, zerrissene Matratzen, durchlöcherte Socken, Staub und Chaos. Auf Aurélien Villettes Bildern sind keine Menschen zu sehen. Ihre Vergangenheit ist aber noch zu spüren. Ebenso wie in den leeren Palästen, Kirchen, Theatern: Orte, die eine große Zeit hatten und diese nach wie vor ausstrahlen. Der makellose Glanz ist allerdings einer melancholischen Schönheit gewichen.
"Die Ruine ist eine Brücke von der Vergangenheit zur Gegenwart", erklärte der Fotograf der Tageszeitung Le Figaro, "unsere Architektur ist in ständiger Bewegung und wird immer infrage gestellt werden". Seine Fotos seien kein endgültiger Zustand, nur eine Momentaufnahme. Sie konfrontieren uns mit Themen wie Vergangenheit, Entwicklung, Niedergang. "Können wir tatsächlich das Schema des organischen Lebens (Jugend, Reife, Verfall) auf die Architektur übertragen?", fragt Harold Hinsinger im Vorwort zu Villettes Bildband, der mehr als hundert großformatige Fotos umfasst. Antworten liefert "Spirit of Place" keine, er liefert gar keine Anhaltspunkte.
Die Orte bleiben ungenannt und damit unbekannt, sie können im eigenen Land oder in dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, das Villette gerne bereist, stehen. Das Offenlassen und Fehlen von Beschreibungen eröffnet den Betrachtern eine Vielzahl an Interpretationsmöglichkeiten. Welche Bedeutung haben die eingeschlagenen Jugendstilfenster, die verblassenden Fresken, die bröckelnden Rundbögen heute noch? Was bleibt am Ende übrig? Möglicherweise nicht viel mehr als eine Hülle und die Erinnerung. Und diese Kombination macht wohl auch den "Esprit der Räume" aus. Die große Leistung des Künstlers liegt darin, dass er diese Atmosphäre über seine Bilder transportieren und spürbar machen kann.
Der Weg für Villette war keineswegs vorgegeben, er hat ihn sich selbst bereitet – mit einem radikalen Lebenseinschnitt. Der ehemalige Informatiker beschloss vor neun Jahren, nur mehr das zu tun, was ihn am meisten erfüllt: Reisen. Über dreißig Länder hat der 1982 in Chesnay geborene Franzose seitdem besucht. Und es hat sich ausgezahlt: Für die Serie "Dogma", die das erste Kapitel des Buches bildet, erhielt er 2014 sogleich den ersten Preis bei den International Photography Awards (Kategorie: Bestes historisches Architekturbild). Der "Spirit" der Orte dürfte so schlecht nicht gewesen sein.
Ruinen, so weit das Auge reicht: Aurélien Villette hat die Magie vergessener Räume festgehalten. Der Bildband „Spirit of Place“ ist bei teNeues, Edition Yellow Korner, erschienen. € 59,90