Leben/Wohnen & Design/Wohnen

Alejandro Aravena: Die Kraft der Visionen

Es war im Jahr 2010: Ein Erdbeben der Stärke 8,8 auf der Richterskala und ein Tsunami zerstörten die chilenische Stadt Constitución fast zur Gänze. Alejandro Aravena wurde gebeten, einen Masterplan für den Wiederaufbau zu entwickeln. In hundert Tagen. "Wir mussten fast alles neu entwerfen, von öffentlichen Gebäuden oder Plätzen bis zum Straßennetz und dem Wohnraum. Vor allem mussten wir herausfinden, wie die Stadt vor zukünftigen Tsunamis geschützt werden kann", erzählt der Architekt im Rahmen eines Vortrages auf der Konferenz TEDGlobal. Der Leiter der Institution Elemental setzte mit seinem Team auf einen partizipativen Designprozess, der die Bevölkerung vor Ort miteinbezog. Die Bewohner äußerten ihre Wünsche, aber auch ihre Befürchtungen. Die Situation war angespannt, eine Lösung nicht in Sicht.

"Wir hätten uns verziehen können. Wir gingen aber noch eine Stufe weiter und fragten: Welche anderen Probleme gibt es?" Denn einen Tsunami gibt es vielleicht alle zwanzig Jahre, die Sorgen des Alltags wie Überflutungen oder der beschränkte Zugang zum Fluss jedoch ständig. So entstand etwa die Idee eines Waldes zwischen Stadt und Küste, der diese beiden Punkte löst. Die Kosten spielt eine von Elemental initiierte Effizienzsteigerung in der Verwaltung ein. "Wenn Design eine Macht hat, dann ist es die Macht der Synthese", sagt Aravena. Und das bedeutet vor allem, das Beste aus allen Teilen der Gesellschaft herauszuholen.

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Das große Ganze im Blick

Die Erfolgsgeschichte von Constitución sagt viel über die Arbeits- und Denkweise des 48-jährigen Chilenen aus. Natürlich baut er monumentale Gebäude. Aber nicht ohne vorher zu analysieren, worin die Bedürfnisse der zukünftigen Nutzer liegen und wie seine Architektur diese am besten befriedigen kann. "Er hat die Fähigkeit demonstriert, soziale Verantwortung, wirtschaftliche Anforderungen und die Gestaltung von menschlichem Lebensraum und der Stadt zu verbinden", urteilte die Jury des Pritzker-Preises.

Bei den akademischen Bauten – von Gebäuden an seiner Heimatuni Universidad Católica de Chile bis zu dem Studentenheim der St. Edward’s University in Austin (USA) – wird diese ganzheitliche Arbeitsweise sichtbar: Gut durchdachte Einheiten, der überlegte Einsatz von Materialien und das Bekenntnis zum öffentlichen Raum ermöglichen eine optimale, individuell passende Nutzung. Für letzteres Projekt wurden etwa Ziegel nach alter Tradition in Mexiko per Hand geformt und in einem Meilerofen gebrannt, sodass eine außergewöhnliche Oberfläche entsteht. Rote Glaswände und eine Skybrücke prägen den Komplex zusätzlich, in dessen Mitte sich ein Hof befindet, der öffentliche Einrichtungen und Freiflächen beherbergt. Und der, wie in den meisten seiner Projekte, ein Bekenntnis zu Aufenthaltsqualität ist.

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Das "UC Innovation Center - Anacleto Angelini" in Santiago de Chile ist ein Paradebeispiel, das die für Aravena typische Verbindung von Gesellschaft und Umweltschutz darstellt. Anstelle eines typischen Bürogebäudes mit Glasfassade entwarf Aravena eine Betonhülle mit Öffnungen, die so groß sind, dass sie als Plätze Raum und Aussicht bieten. Die massive Außenhaut verhindert die direkte Sonneneinstrahlung, wodurch der Energiebedarf um ein Drittel gesenkt wird. Wo im Inneren normalerweise Lifte oder Treppen angelegt sind, sah der Architekt ein gläsernes Atrium vor, das Transparenz und gute Lichtverhältnisse ermöglicht. "Mit der richtigen Gestaltung ist Nachhaltigkeit nichts weiter als die konsequente Nutzung des Menschenverstands."

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Dumme Fragen erwünscht

Diese pragmatische Art, mit der Aravena an die Dinge herangeht, ist ein Markenzeichen. Für ihn geht es darum, die richtigen Fragen zu stellen – und die dürfen durchaus "dumm" sein, da sie zu anderen Perspektiven führen. Aravena ignoriert, was andere für allgemeingültig und unumstößlich halten. Er denkt jedes Projekt von Grund auf neu. Dass das nicht das leichteste Unterfangen ist, lernte der Sohn einer Lehrerfamilie schon früh.

Nach dem Abschluss seines Studiums eröffnete er 1994 sein eigenes Büro, gab allerdings zwischenzeitlich auf: Das ausschließliche Ansinnen nach schnellem Geld und der mittelmäßige Anspruch der Bauherren haben ihn frustriert. "Wenn man für Menschen in Slums arbeitet, ist das anders. Sie können zwar vielleicht nicht lesen und schreiben, aber sie haben diese Sehnsucht nach Architektur und einem guten Leben", sagte Aravana in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk.

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Halbe Häuser als Zukunftsmodell

Mit Elemental entstanden so über 2500 Einheiten im sozialen Wohnbau, die kostengünstigen, aber hochwertigen Lebensraum bieten. Das Vorzeigeprojekt "Quinta Monroy Housing" aus dem Jahr 2004 ermöglichte hundert Familien, die in Favelas im chilenischen Iquique lebten, zu Hausbesitzern zu werden. Gemeinsam mit ihnen überlegten Aravena und sein Team mögliche Vorgehensweisen.

Das Budget war begrenzt, daher wurde folgende Idee geboren: Anstelle eines winzigen, schlechten Hauses soll ein halbes, dafür qualitativ gutes errichtet werden. Die von der öffentlichen Hand finanzierte Hälfte beinhaltet das Dach, das Bad, die Küche und ein Zimmer. Den anderen Bereich können die Nutzer selbst gestalten und vervollständigen – je nach Wunsch und Möglichkeiten. Schlussendlich entwickelten sich die sozialen Wohneinheiten aufgrund des Engagements der Bewohner zu Mittelklassebehausungen. Das Konzept, das die Selbstständigkeit und das Selbstbewusstsein der Nutzer fördert, wurde auch in weiteren Projekten, z. B. in Mexiko, angewandt und adaptiert.

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Neue Dimension der Architektur

Wenn Utopien Realität werden, weckt das natürlich großes Interesse. Mit seiner Arbeit konnte Alejandro Aravena bereits Lösungen für elementare Herausforderungen der Gegenwart anbieten: zu wenig und teurer Wohnraum in Städten, Umweltbelastung, Lebensqualität im urbanen Raum. Seine pragmatischen Modelle, die kollektiv entwickelt werden, spenden Zuversicht. Die Jury lobte am ersten chilenischen Pritzker-Preisträger, dass er die Rolle des Architekten erweitert und der Profession eine neue Dimension verliehen habe, die notwendig sei, um aktuelle und zukünftige Aufgaben lösen zu können. Vergangenen Montag wurde dem engagierten Baukünstler die Medaille im UNO-Hauptquartier in New York überreicht. Nicht unumstritten, schließlich war der Ausgezeichnete selbst von 2009 bis 2015 Mitglied des Komitees.

Das Ansehen, die Reichweite und Bedeutung des Preises hofft er zur Erforschung neuer Gebiete nutzen zu können, schrieb Aravena in einer ersten Stellungnahme. Eine Premiere gibt es auf alle Fälle ab Mai als künstlerische Leiter der 15. Architekturbiennale in Venedig. Auch hier darf man sich hoffentlich auf eine unkonventionelle Herangehensweise freuen.

www.alejandroaravena.com

www.pritzkerprize.com