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Wo jedes zweite Kind per Kaiserschnitt zur Welt kommt

Heftige Wehen, laute Schreie - viele werdende Mütter bekommen beim Gedanken an den Kreißsaal weiche Knie. In Brasilien ist die Angst der Frauen vor einer normalen Geburt sogar so groß, dass sie sich immer öfter für einen Kaiserschnitt entscheiden. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird dort mehr als jedes zweite Kind mit dem chirurgischen Eingriff auf die Welt geholt.

Die Zahl medizinisch nicht notwendiger Kaiserschnitte steige weltweit, warnte die Organisation im April. Mit einer Rate von 55,6 Prozent gehört Brasilien nach WHO-Angaben zu den weltweiten Anführern der Liste. Mehr Kaiserschnitte werden nur in der Dominikanischen Republik vorgenommen (56,4 Prozent). Doch der kleine Karibikstaat hat nur ein Zwanzigstel der rund 200 Millionen Einwohner Brasiliens.

"Kaiserschnitt-Epidemie"

In der brasilianischen Politik und in den Medien ist daher von einer "Kaiserschnitt-Epidemie" die Rede. Dabei ist der operative Eingriff für Mutter und Baby mit hohen Risiken verbunden. Die Organisation empfiehlt zehn bis 15 Prozent Kaiserschnittanteil an den Geburten.

Brasilien nimmt die Warnung als Anlass, gegen die Kaiserschnitt-Flut vorzugehen. Doch die Furcht der Brasilianerinnen ist nicht unbegründet. "Die natürliche Entbindung ist in Brasilien besonders schmerzhaft und riskant", sagt die Ärztin Carmen Simone Diniz, Koordinatorin der 2014 erschienenen Studie "Nascer no Brasil" ("In Brasilien geboren werden"). Schuld sei das Gesundheitssystem.

So würden viele von der WHO empfohlene Richtlinien nicht übernommen. Die Frauen könnten nicht selbst bestimmen, in welcher Position sie gebären wollten. Zudem werde für gewöhnlich das wehenfördernde Hormon Oxytocin verabreicht, welches die Schmerzen verstärke. Dadurch werde der Kaiserschnitt zur "Erlösung", sagt die Geburtshelferin Simone Diniz. Der Eingriff sei für viele eine Flucht vor diesem Szenario.

Viele Vorurteile

Im Gesundheitssystem fehlen auch multidisziplinäre Teams aus Pflegepersonal und Geburtshelfern, wie Suzanne Serruya von der WHO in Brasilien kritisiert. Zudem seien Schwangere oft nicht ausreichend über die Eingriffe informiert und hätten Vorurteile gegen eine normale Entbindung. Dies mache den Kaiserschnitt in Brasilien nicht nur zu einem "Problem des öffentlichen Gesundheitssystems", sondern auch zu einer "kulturspezifischen Angelegenheit", sagt Serruya.

Auch Geld spielt eine bedeutende Rolle. Im Gegensatz zur normalen Geburt lassen sich die ein- bis zweistündigen Eingriffe genau planen. Der Kaiserschnitt sei für Ärzte und Kliniken lukrativer als normale Geburten, sagt Etelvino Trindade, Präsident des brasilianischen Verbandes für Gynäkologie und Geburtshilfe. Mit festgelegten OP-Terminen lasse sich die Belegung der Krankenhäuser besser planen. "Das kann man nur mit einem Kaiserschnitt". Dem Staat und dem öffentlichen Gesundheitswesen kommen die dabei entstehenden Kosten allerdings teuer zu stehen.

Gesundheitliches Risiko

Die Zahl der Eingriffe ist vor allem ein gesundheitliches Risiko für Mutter und Kind. Die Gefahr von Atemwegserkrankungen bei Babys erhöht sich durch den Eingriff nach Angaben des brasilianischen Gesundheitsministeriums um bis zu 120 Prozent. Das Risiko, dass die Mutter bei der Geburt stirbt, steige um das Dreifache. "Aufgrund all der Risiken, die jede Operation mit sich bringt, sollte sie stets die Ausnahme bleiben", sagt die brasilianische WHO-Expertin Serruya. "Kaiserschnitte können Leben retten. Doch es ist wissenschaftlich unumstritten, dass die Geburt normal verlaufen sollte."

Verbesserte Geburtshilfe

Mit neuen Vorschriften versucht Brasilien, der Entwicklung zur Kaiserschnitt-Nation entgegenzuwirken. In einem Pilotprojekt mit mehr als zwei Dutzend Krankenhäusern werde die Geburtshilfe verbessert, sagt der brasilianische Gesundheitsminister Arthur Chioro. Das Klinikpersonal wird nach Angaben der Behörde geschult, die Betreuung auf den Stationen kontrolliert. Auch die werdenden Mütter würden in Zukunft besser über normale Geburten informiert werden.

Zudem treten in diesem Monat Juli neue Richtlinien in Kraft. So müssen Krankenkassen von diesem Monat an Versicherte über den prozentualen Anteil von Kaiserschnitten informieren, die von einzelnen Ärzten und Krankenhäusern vorgenommen werden. Brasilien hofft, dass den werdenden Müttern so die Angst vor einer normalen Geburt genommen werden kann, damit sie sich in Zukunft nicht gezwungen sehen, unnötige Risiken einzugehen.

Von Ana María Pomi (dpa)

Entbindungen mithilfe des Kaiserschnitts werden nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu oft ohne echte Notwendigkeit vorgenommen. In solchen Fällen würden Frauen und ihre Babys dem Risiko von Gesundheitsschäden ausgesetzt, ohne dass dies ausreichend medizinisch gerechtfertigt wäre, erklärte die WHO am Freitag in Genf.

Es sollten die individuellen Bedürfnisse der Patientin und ihres Kindes entscheidend sein und nicht eventuelle vorgegebene Raten, so die WHO. In den vergangenen 30 Jahren wurde eine Rate von zehn bis fünfzehn Prozent als "ideale Rate" für Kaiserschnitte angesehen. Nun aber zeigten zwei Studien mit WHO-Beteiligung, dass bis zu einer Rate von zehn Prozent tatsächlich eine Verbesserung der Allgemeingesundheit von Müttern und Kindern vorliege sowie die Sterberate zurückginge. Darüber hinaus sei allerdings keine signifikante Verbesserung festzustellen.

Österreich

Die Ergebnisse würden einerseits den Nutzen des Kaiserschnitts bestätigen, erklärte Marleen Temmerman, Expertin für Reproduktionsmedizin der WHO. Wie jeder chirurgische Eingriff berge aber auch ein Kaiserschnitt kurz- und langfristige Risiken. Diesen sollten Mutter und Kind nicht unnötig ausgesetzt werden. In Österreich kommt mittlerweile fast jedes dritte Baby per Kaiserschnitt auf die Welt (32%) - doppelt so viele wie noch vor 15 Jahren. In einigen Geburtskliniken liegt die Kaiserschnittrate sogar bei mehr als 50 Prozent. Ein zunehmender Grund für einen Kaiserschnitt ist die Angst vor einer vaginalen Geburt. Bei acht Prozent aller Kaiserschnitte gibt es laut einer Studie der Stadt Wien gar keine medizinische Indikation für eine Sectio.

Babys nach dem Kaiserschnitt

Fotograf Christian Berthelot zeigt einzigartige Aufnahmen. Mittlerweile kommt jedes dritte Kind per Sectio auf die Welt.

Blutverschmiert, verrunzelt, überzogen mit Käseschmiere - der Anblick des Neugeborenen bleibt normalerweise den Eltern vorbehalten. Für sie ist der Blick auf das neue Leben meist ein Schlüsselereignis, besonders dann, wenn bange Minuten vorausgehen wie bei einem ungeplanten Kaiserschnitt. Der französische Fotograf Christian Berthelot erlebte genau das bei der Geburt seines eigenen Sohnes. Er begleitete seine Frau in den Kreißsaal. Als Komplikationen auftreten, holen die Ärzte das Kind mittels Notkaiserschnitt auf die Welt. Für Berthelot war der Moment, in dem seiner Frau der Bauch aufgeschnitten wurde, ein prägendes Ereignis. "Ich war in einer Art Parallel-Welt und wollte nur, dass mein Sohn gesund wird. Ich war ein Vater wie alle anderen", sagt Berthelot.

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