Wissen wir zu wenig über Sex? Ein Buch klärt auf
Von Gabriele Kuhn
Wussten Sie eigentlich, dass der erste Kuss einer der wichtigsten Momente bei der Wahl eines Partners ist? Einer Studie der University of Albany zufolge führt ein "schlechter" erster Kuss in der Mehrzahl der Fälle zu einer endgültigen Abkehr von einer Person, auch wenn man sich bis zu diesem Zeitpunkt sehr zu ihr hingezogen gefühlt hat.
Oder haben Sie schon einmal gehört, dass sich im Inneren des Penis zwei parallele zylindrische Gebilde befinden, die wie der Doppellauf einer Schrotflinte von der Peniswurzel bis zur Spitze des Genitals verlaufen? Genau, das sind die sogenannten Schwellkörper, die für die Erektion des Mannes zuständig sind. Und die wiederum schaut bei jedem anders aus – abhängig vom "Erektionswinkel", der sich mittels Winkelmesser feststellen lässt.
Es ist also komplizierter, als man denkt. Nicht nur: In Sachen Sex kursieren unglaublich viele veraltete Mythen, Tabus und Vorurteile, die kulturell nach wie vor tief verankert sind. Jetzt soll ein neues Buch mit dem Titel "Was passiert, wenn es passiert" ein bisschen mehr Licht ins Schlafzimmerdunkel bringen. Es versteht sich als "kuriose und unterhaltsame Faktensammlung aus der Welt der Liebe". Und als Ausflug in die weite Welt der "Wissenschaft unter der Bettdecke".
So weit, so gut. Aber braucht die Menschheit tatsächlich noch ein weiteres Aufklärungsbuch für Erwachsene, das den Sex auf Fakten und Tabellen herunterbricht? Wo man heutzutage nur Google zu befragen braucht. Oder, einfacher betrachtet: Sollten die Menschen weniger über Sex lesen, sondern ihn einfach tun?
Auch Ärzte wissen wenig
Wir haben nachgefragt – bei der Wiener Sexualtherapeutin Elia Bragagna, Gründerin der Online-Enzyklopädie "SexMedPedia". Sie begrüßt jeden Beitrag, der "gegen die Mythen, die unsere Kultur entwickelt hat, arbeitet". Das sei ihre tägliche Aufgabe, denn: "Man würde nicht glauben, dass das immer noch nötig ist. Es ist aber nötig." Diese Mythen würden nicht nur bei Patienten kursieren, sondern auch bei Kollegen – Ärzte, die nicht wissen, wie Lust oder Erregung funktioniert. "Die haben zum Beispiel keine Ahnung, wie die Klitoris tatsächlich aufgebaut ist." Dazu kommt, dass man gegen viele kulturell-religiöse Vorgaben anreden müsse: Was ist weibliche, was ist männliche Sexualität? Als Beispiel nennt Bragagna die fixe Idee der Männer, ihrer Partnerin einen vaginalen Orgasmus besorgen zu wollen: "Stattdessen müssten sie wissen, dass nur die Stimulation des gesamten Klitoriskomplexes dazu beiträgt, dass die Frau einen Höhepunkt erlebt." Unglaublich, wie oft man das erzählen und gebetsmühlenartig wiederholen müsse. Ebenso unerschütterlich sei die weibliche Vorstellung, es sei nur der Mann, der für ihren Höhepunkt sorgen müsse. "Warum? Sie muss sich kennen und die Signale senden."
Viele Frauen richten sich außerdem immer noch nach seinem steifen Penis als Signal für den Koitusbeginn, obwohl sie noch gar nicht bereit sind. Schmerzen sind die Folge. Und schließlich kursiert da noch der hartnäckige Mythos vom großen Penis: "Viele denken immer noch, dass der Mann einen Riesenpenis haben muss, um zu imponieren. Aber da die Scheide maximal 12 cm lang ist, ergibt alles Mehr an Länge einfach keinen Sinn. Der Selbstwert des Mannes gehört doch anders erobert, indem man sich liebt, als Kind schon seinen Körper mag."
Lebenslust macht Lust
Davon ist übrigens auch Buchautorin Alice Pace, gelernte Chemikerin und Pharmazeutin, die in Nanotechnologie promovierte, überzeugt. "Ich denke, Kinder sollten die Möglichkeit haben, sich frei und lustvoll entwickeln zu können", sagt sie im Gespräch mit dem KURIER. Hier geht es nicht zwingend um Wissensvermittlung und auch nicht um sexuelle Lust, sondern schlicht um Lebenslust. "Kinder sollen einfach sein dürfen, mit ihren Bedürfnissen frei umgehen können, sodass sie sich in ihrem Körper wohlfühlen, um zu lernen, was sie brauchen oder was ihnen nicht passt. Das ist das Wichtigste", sagt Bragagna.
Pace selbst hat beim Schreiben ihres Buchs natürlich auch an heranwachsende Menschen gedacht, "denn je früher sie lernen, richtige von falschen Fakten und Informationen zu unterscheiden, desto besser ist es für sie". Der menschliche Körper sei aus ihrer Sicht eine mysteriöse Maschine. Wer sexuelle Lust aus dem wissenschaftlichen Blickwinkel beleuchtet, hilft, diese "Maschine" besser zu verstehen.
Letzte Frage. Ob auch sie bei ihren Recherchen noch etwas Neues entdeckt hat und überrascht war? "Ja, absolut. Mir war zum Beispiel überhaupt nicht klar, welche Rolle der Kuss, wissenschaftlich betrachtet, spielt."