Wissen/Gesundheit/Gesund

Tanz in die Vergangenheit

Anna und Peter Jabek kennen einander seit 73 Jahren – sie waren zusammen in der Volksschule. „Schon damals wollte ich immer in ihrer Nähe sein“, erzählt Herr Jabek, streichelt die Hand seiner Frau und hält sie fest. Das hat sich nicht geändert – auch, wenn sie heute im Haus der Barmherzigkeit wohnt. Aus den Lautsprechern singt Doris Day „Que Sera, Sera“. Frau Jabek summt vergnügt mit.

Der Kaffeehausbereich des Pflegeheims in Wien-Donaustadt ist festlich dekoriert. Ein junges Paar in Anzug und Abendrobe von der Tanzschule Elmayer verzaubert die Zuschauer mit einem langsamen Walzer. Auch die Betreuer und Therapeuten sind für die Tanzveranstaltung gekleidet. Der frische Kaffee wird in schönem Kaffeehausporzellan serviert.

Alle Inhalte anzeigen
Peter Jabek hat seine Anna daheim sieben Jahre lang gepflegt, in denen ihr Gedächtnis zunehmend nachgelassen hat. Seit sie im Haus der Barmherzigkeit versorgt wird, besucht er sie jeden Tag. „Sie fehlt mir so sehr. Ich sehe sie überall im Haus“, seine Augen werden feucht. Heute, beim Tanzcafé, ist er nicht wie sonst ihr Besucher im Heim – sie nehmen als verliebtes Paar an dem Abend teil. „Früher waren wir oft bei Tanzveranstaltungen von Trachtenvereinen, wir haben Slow Fox und Polka getanzt. So schön war das.“

Herr Jabek hilft seiner Frau aus dem Sessel und schwebt mit ihr über das Tanzparkett in vergangene Zeiten. Que sera, sera... what will be, will be.

Auf Augenhöhe

Das Tanzcafé ermöglicht den Bewohnern und ihren Angehörigen Begegnungen auf Augenhöhe. Musiktherapeutin Marion Frank: „Wir spielen Musik aus der Zeit, als die Menschen jung waren und schaffen ein biografisch relevantes Setting. Wir verwenden passendes Geschirr und tragen festliche Kleidung. Früher hat man sich schön angezogen, um auszugehen.“ Die feierliche Stimmung hilft den Menschen, ihre Schmerzen zu vergessen, sie leben auf und bewegen sich lieber als in einer regulären Therapiestunde. „Tanzen ist eine gesellschaftlich tief verankerte Form, sich zur Musik zu bewegen und in Kontakt zu treten. Die Effekte überraschen auch uns jedes Mal aufs Neue.“

Alle Inhalte anzeigen
Frau Keretz hat sich für das Tanzcafé extra hübsch gemacht. Sie trägt ihre schöne Bluse mit dem Blumenmuster und eine weiße Strickweste. Die 92-Jährige sieht nicht mehr gut, doch die feierliche Tischdekoration und das edle Kaffeeporzellan entgehen ihr nicht. „Ich freue mich schon jedes Mal auf den Tanzabend. Die Musik ist angenehm, die Leute sind schön angezogen und es gibt gute Mehlspeisen. Am besten gefällt mir die schöne Tischdekoration – ich bastle selbst sehr gerne, obwohl ich so schlecht sehe.“ Ein Betreuer, ein junger Mann in weißem Hemd und Anzughose, bittet Frau Keretz zum Tanz. Sie lässt sich von ihm auf die Tanzfläche führen.

Heikle Themen

Für das Betreuer-Team ist das Umfeld eine gute Gelegenheit, heikle Themen anzusprechen. Prim. Barbara Schreiber erklärt: „Bei vielen gilt es, Trauerarbeit zu leisten. Es kommen Erinnerungen hoch, Situationen, die wir sonst in der Therapie nicht hervorrufen könnten.“ Das gilt auch für Angehörige.

Das Ehepaar Jabek hat sich wieder hingesetzt. „Meine Frau hat in ihrem Leben schon so viel durchgemacht. Wir sind Donauschwaben und hatten es sehr schwer nach dem Krieg. Sie musste als Kind ihren Eltern beim Verhungern zusehen.“ Gemeinsam haben sie sich ein Haus und ein schönes Leben aufgebaut. Sie war lange Zeit Haushälterin beim Chirurgen Lorenz Böhler. Herr Jabek, ein gelernter Schuhmacher, war Wache und Hausführer im Parlament und mit Persönlichkeiten wie Bruno Kreisky und Anton Benya vertraut. „Das waren schöne Zeiten! Wir haben uns alles selbst aufgebaut.“ Seine Augen werden wieder feucht.

Alle Inhalte anzeigen
Wehmut ist Frau Schubert fremd. Die lebenslustige 83-Jährige in der roten Bluse schiebt ihren Rollator überall hin, wo etwas los ist. „Ich habe vom Herrgott alles bekommen, was mir wichtig ist. Ich bin dankbar für alles, was ich machen und erleben darf.“ Bei den Melodien, die beim Tanzcafé gespielt werden, fühlt sie sich wieder jung. „Ein bisschen mitwackeln kann ich auch noch immer. Das hab ich mit dem Herrgott ausgemacht. Der ist nicht in der Kirche, sondern mein bester Freund und Kumpel. Man muss mit dem zufrieden sein, was man hat.“

„In Deutschland, wo Tanzcafés für demente Menschen entwickelt wurden, sind die Besucher oft noch sehr rüstig. Viele wohnen daheim“, erklärt die Musiktherapeutin Frank. Bei den Besuchern im Haus der Barmherzigkeit ist die Erkrankung meist schon sehr fortgeschritten. „Aus ihrer Sicht ergibt es oft keinen Sinn, dass wir das machen. Über die Musik finden wir trotzdem einen Zugang zu ihnen und können an Ressourcen anknüpfen.“

Strangers in the Night

Frank Sinatra singt „Strangers in the Night“. Am Rand der Tanzfläche bewegt ein Mann im Rollstuhl seine Lippen zur Musik. Seine Finger tippen zum Rhythmus mit, seine Augen schweifen in eine andere Welt ab.

Herr Jabek fragt seine Frau, ob sie weiß, wann sie Geburtstag hat. „Am 3. 4. 1932! Weißt du das nicht mehr?“, fragt sie ihn empört. Er lacht herzhaft und streicht ihr über die Wange. „Ach, weißt du, ich werde auf meinen alten Tagen auch schon vergesslich.“

Herr Jabek zieht ein Hochzeitsfoto aus der Tasche und zeigt es seiner Frau: „Erkennst du die beiden?“ – „Das sind zwei Zigeuner!“ Sie lachen laut auf, er gibt ihr einen Kuss. Sein sehnlichster Wunsch ist, einen Platz in einer Senioreneinrichtung zu finden, in der die beiden wieder gemeinsam wohnen können. „Was soll ich denn alleine in unserem Haus? Ich will bei ihr sein.“

Que Sera, Sera.