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Projekt Körper: Fit ist das neue Dünn

Irgendwann konnte Lisa einfach nicht mehr. Unter der gleißenden Sonne von Los Angeles brach sie weinend zusammen und erbrach auf den Gehsteig. Der kilometerlange Lauf durch die Stadt, angeordnet von Model-Dompteurin Heidi Klum, hatte sie völlig erschöpft – die 20-Jährige war für die sportliche "Challenge" einfach nicht fit genug.

Wenig überraschend zählt Lisa nicht zu den vier Mädchen, die heute Abend um den Titel "Germany’s next Topmodel" rittern. Immerhin hatte Klum während der Staffel mehrmals betont, wie wichtig es sei, dass die Mädchen körperlich fit sind, wenn sie die Laufstege der Welt erobern wollen. Hungern ist out, stattdessen zeigt Vierfach-Mama Heidi ihren Schützlingen höchstpersönlich, wie man gesundes Mittagessen zubereitet.

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Kritik

Der Klum’sche Optimierungswahn sorgte in den vergangenen Monaten immer wieder für Kritik. Die Diskussionen heizte rechtzeitig zum Staffelfinale auch die Webseite PinkStinks an. Mit einer Petition will sie die Medienbehörde dazu bringen, GNTM als jugendgefährdend einzustufen. Dorothee Schnatmeyer von der Medienanstalt Berlin-Brandenburg sah bisher keine Veranlassung, einzuschreiten: "Es gibt keine Magermodels mehr oder Kritik, dass Mädchen zu dick sind. Im Gegenteil: Ein zu dünnes Mädchen wurde aus der Sendung geworfen und Heidi Klum kocht jetzt mit den Models."

Bettina Zehetner von "Frauen beraten Frauen" erlebt in den Gesprächen, wie Jugendliche unter der Show leiden: "Formate wie GNTM tragen massiv dazu bei, dass Mädchen und Frauen ihren Körper als verbesserungsbedürftig erleben. Sie fühlen sich nie dünn genug, nie fit genug, nie begehrenswert." In den sozialen Medien zeigt der Zwang zu Fitness und extrem gesundheitsbewusster Ernährung bereits seine Wirkung: Fit ist das neue Dünn, vegane Kost längst nicht mehr ein exotisches Hobby für alternative Weltverbesserer. Fast täglich entstehen neue Lifestyle-Blogs, auf denen junge Frauen ihre liebsten Fitnessübungen und Smoothie-Rezepte mit den (meist sehr jungen) Lesern teilen.

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Social Media

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Eine der erfolgreichsten österreichischen Lifestyle-Bloggerinnen ist die 26-jährige Nina Radman. Ihr Blog"Berries & Passion"würde Heidi gefallen: Neben anschaulichen Haferflockenmüslis und Übungen für einen straffen Bauch gibt sie Tipps, wie man durch eine fünftägige Detox-Saftkur kommt. Auf dem Foto-Portal Instagram hat die Wienerin 20.000 Fans. "Die Themen Ernährung und Fitness boomen in den sozialen Netzwerken unglaublich", beobachtet Radman.

Sie wolle ihren Lesern vermitteln, dass gesundes Essen und Sport zwar wichtig, aber nicht alles sind. "Ich glaube, dass der Körper für viele zu einem Projekt wird. Auf Instagram werden dauernd Vorher-/Nachher-Fotos gepostet und man hat das Gefühl, viele Mädchen haben nichts anderes im Kopf als den perfekten Körper."

Der Weg dorthin führt nicht zwingend über das Fitnessstudio. Kostenlose Apps erinnern die Jugendlichen daran, rechtzeitig ihre Übungen zu absolvieren. Auf Instagram sorgen Hashtags à la #StayFit oder #StayStrong für die nötige Motivation. Kaum ein Ernährungstrend ist so populär wie "Clean Eating", also natürliche, möglichst unverarbeitete Nahrungsmittel, idealerweise ohne tierische Produkte.

Vor dem Körperkult im Internet warnt jetzt die deutsche Kommission für Jugend- und Medienschutz: "Auf Instagram werden Abnehmpartner gesucht und Jugendliche gründen WhatsApp-Gruppen, in denen sie ihre Körpermaße oder Berichte über das Essverhalten veröffentlichen. Gefährdete Jugendliche fühlen sich dadurch ermutigt, bei ihrem eigenen krankhaften Verhalten zu bleiben."

Zwanghaft gesund

Diesen Trend beobachtet auch Christoph Natschläger von der Hotline "Rat auf Draht": "Das Thema Magersucht ist nicht mehr so präsent wie früher, jetzt geht es sehr um gutes, sportliches Aussehen und immer um gesunde Ernährung. Aber in einem Ausmaß, das manchmal schon an Essstörungen erinnert. Oft entscheiden sich junge Mädchen für eine fleischlose Ernährung und reduzieren ihre Nahrung radikal, sie zählen fast jedes Salatblatt. Ich betone in so einem Gespräch, dass Essen nicht nur Energiezufuhr ist, sondern etwas Genussvolles. Manche versagen sich den Spaß am Essen."

Psychotherapeutin Ruth Werdigier ortet in dem Gesund- und Schlankheitswahn einen Schrei nach Beachtung: "Die jungen Menschen bekommen durch ihre Aktivitäten Aufmerksamkeit und Anerkennung. Ich habe Mädchen in der Therapie, die ständig bei Fitnessläufen mitmachen. Bei ihrem Lebensstil geht es auch um ein Kontrollbedürfnis und um einen wahnsinnigen Ehrgeiz."

Für Karin Gottschalk vom alternativen Missy Magazine ist die Körperoptimierung "eine andere Art von Arbeit, die man erfolgreich absolvieren muss. Jeder Makel ist ein Zeichen dafür, dass man nicht diszipliniert genug ist".

Selbstbestimmung

Das Bedürfnis nach Kontrolle beobachtet auch Bettina Zehetner. "Der Körper ist der Ort, an dem die Arbeit an sich selbst sichtbar werden soll. Hier versuchen Mädchen, Kontrolle über sich und ihr Leben zu demonstrieren. Wenn ich sonst im Leben oft das Gefühl habe, wenig gestalten zu können, forme ich eben meinen Körper nach bestimmten Vorstellungen."

In der Beratung zeigt sich für sie deutlich: Mediale Botschaften von "gefährlichen" Lebensmitteln beschäftigen und verunsichern Frauen – vor allem jene, die alles "richtig" machen wollen und dazu nach Normen und Orientierung suchen. "Dieses Bedürfnis ist zwar verständlich, zu viel Messen und Vergleichen wirkt sich jedoch belastend auf die Lebensqualität aus", sagt Zehetner.

Junge Frauen möchten sich selbst schön erleben, beobachtet Ruth Werdigier: "Interessant finde ich, dass normale Mädchen viel Geld für Fotografen-Shootings bezahlen – damit sie selbst professionelle Fotos bekommen und auch einmal das Model-Feeling erleben." Den Satz "Ich habe heute ein Foto für dich" hört eben jedes Mädchen gern – auch wenn es für Heidi Klums Kameras nicht schlank und fit genug ist.