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Tagebuch für die verlorene Zeit

Zehn Tage weg. Dazwischen schemenhafte Wahrnehmungen, Piepsen, fremde Stimmen und Geräusche, die im Kopf des Betroffenen unterschiedlich verknüpft werden. Patienten leiden oft noch lange Zeit nach ihrem Aufenthalt in einer Intensivstation unter Erinnerungslücken, manchmal sogar unter Ängsten, Depressionen oder Albträumen.

Einer solchen posttraumatischen Belastungsstörung will das Stationsteam von der Abteilung für Anästhesie und operative Intensivmedizin im Wiener Kaiser-Franz-Josef-Spital mit einem sogenannten Intensivtagebuch abhelfen: „Liebe Frau Mustermann, ein spezielles Beatmungsgerät macht ein tickendes Geräusch. Mich erinnert es an einen Bootsmotor. Ich frage mich, wie Sie dieses Geräusch wahrnehmen“, steht da etwa handgeschrieben und schön leserlich im Beispielheft.

Aufarbeitung

Notizen wie diese sollen den Patienten helfen, die verlorene Zeit aufzuarbeiten. So kann der Patient später nachverfolgen, was passiert ist, wer zu Besuch war oder wann er zum ersten Mal die Augen aufgemacht hat. Denn im Gegensatz zu Betroffenen von bestimmten Krankheitsbildern wie etwa Diabetikern gibt es für Intensivpatienten keine Selbsthilfegruppen, die ihnen helfen, diese Zeit zu verarbeiten.

Der Initiator des Intensivtagebuchs, Albert Krumpel, Pfleger an der Station, erklärt: „Die Idee für das Intensivtagebuch stammt aus Skandinavien und sie wird bei Pflegekongressen immer häufiger positiv thematisiert. Das Tagebuch ist chronologisch aufgebaut, es gibt keine kritischen Bemerkungen oder Diagnosen, sondern wahrheitsgetreue Beschreibungen.“ Auch Angehörige können Einträge über ihre Gedanken, Beobachtungen und Sorgen schreiben. Oder sie erzählen einfach, was sich Zuhause getan hat und können Fotos einkleben.

Oft erinnern sich Betroffene nach dem Tiefschlaf an Geräusche, Töne oder Halbsätze. Auch hier hat sich das Intensiv-Team etwas überlegt. Dem Tagebuch ist eine Audio-CD mit den häufigsten Geräuschen in der Intensivstation beigelegt. „Ein spezielles Beatmungsgerät macht etwa ein lautes Tucker-Geräusch, das jeder anders interpretiert und das die Patienten manchmal tagelang begleitet. Mit der CD können sie es dann möglicherweise zuordnen“, erklärt Krumpel.

Schweigepflicht

Wann sich der Patient letztendlich mit dem Tagebuch befasst, entscheidet er selbst. Der Inhalt unterliegt dem Datenschutz und der Schweigepflicht des Personals. „Wenn Angehörige über besonders intime Angelegenheiten schreiben möchten, empfehle ich Ihnen, zuhause zusätzlich ein eigenes Tagebuch zu führen“, sagt Krumpel, der jedes Tagebuch noch gegenliest, um negative Assoziationen zu vermeiden.

In der Regel wird das Buch sieben Tage nach der Entlassung aus der Intensivstation übergeben. Seit dem Projektstart im Februar 2012 wurden an der Station 16 Intensivtagebücher verfasst. „Bis jetzt haben es sich all jene, die es beim Transfer in eine andere Station nicht wollten, später abgeholt“, erzählt Krumpel. Wenn ein Patient es gar nicht möchte, wird es ein Jahr lang archiviert und dann vernichtet.

Das skandinavische Modell macht in Österreich immer häufiger Schule: In den Krankenhäusern in Zams und in Steyr sowie an der Uni-Klinik Innsbruck werden auch schon Intensivtagebücher geschrieben. Im Krankenhaus Hietzing sollen die ersten Intensivtagebücher Mitte 2014 verfasst werden.