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Leben in der Demenz-WG: Eine gute Lösung?

Es geht um Aufmerksamkeit. Als die Dachorganisation „Alzheimer’s Disease International“ und die WHO 1994 den Welt-Alzheimertag am 21. September einführten, wollten sie auf die Welt der Vergessenden aufmerksam machen. Seither dient der Tag meist, um die erschreckenden Betroffenenzahlen und -prognosen zu verbreiten.

Dabei ist er der richtige Zeitpunkt, sich Fortschritte anzusehen. Die gibt es in der Forschung, teils sogar in der Prävention, vor allem aber in der Betreuung, die sich langsam auf die gespenstigen Eigenheiten dieser Krankheit einstellt.

Zusätzlich wird die öffentliche Wahrnehmung durch regelmäßige Bucherscheinungen sensibilisiert. Gerade erschien eines, das besonders ist: Chantal Louis erlebte, wie ihre nahe stehende „Omma“ zunächst an der Krankheit uneverzweifelte, dann ihr Wiedererblühen in einer Demenz-WG. Ihr Buch wurde ein charmantes, humorvolles und sensibles Plädoyer für eine Wohnform, die Demenzkranken ein maximal selbstbestimmtes Leben ermöglicht. Und zu einem kleinen Denkmal für Omma.

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KURIER: Sie schreiben von Männern, die man nur fragen musste, was sie gerne essen, um ihre Appetitlosigkeit zu beenden. Und Frauen, denen man auf Wunsch die Matratze unters Bett legte, womit sie wieder gut schliefen. Ist die Lösung für die Probleme Demenzkranker immer so einfach?

Chantal Louis: Nein, nicht immer. Es gibt Ausprägungen der Erkrankung, die Angehörige und Betreuerinnen wie Betreuer vor enorme Herausforderungen stellen. Zum Beispiel, wenn der Demenzkranke sehr aggressiv oder sehr desorientiert ist – oder beides. Aber die Lösung ist eben oft verblüffend einfach. Wenn man sich auf die Welt einlässt, in der der demente Mensch – in diesem Moment oder dauerhaft – lebt. Dazu braucht es das Wissen und die Zeit. Herkömmliche Einrichtungen haben inzwischen zwar oft das Wissen, aber meist nicht die Zeit. Wenn zwei Altenpflegerinnen für 30 Menschen zuständig sind, sind die froh, wenn sie überhaupt die reine Pflege schaffen.

Sie beklagen, dass dieses Personal nicht immer sehr motiviert ist. Was läuft da falsch?

Ich beschreibe, was ich in dem Altersheim erlebt habe, in dem meine Oma drei Monate lang lebte: mehr oder weniger geballte Unlust und Inkompetenz bis zur Behauptung, meine Oma sei überhaupt nicht dement. Das ist natürlich nicht in allen Altersheimen so. Ich möchte kein Altersheim-Bashing betreiben, sondern eine Wohnform publik machen, die vielen dementen Menschen aus meiner Sicht gerechter wird. Das Pflegepersonal in unserer Demenz-WG ist zum einen nicht so in der hektischen „Pflege-Mühle“ wie das Heim-Personal und dementsprechend motivierter. Es hat spezielle Fortbildungen gemacht und sich die Demenz-WG auch ausgesucht, sich also bewusst für das enge Zusammenleben mit den Bewohnerinnen und Bewohnern entschieden. Es sind also Leute, die eine enge, herzliche Bindung zu den dementen Menschen aufbauen Zeit für sie und ihre „Schrullen“ haben möchten.

Schrullen klingt harmlos. Sie beschreiben aber auch eine gefährliche Überdosierung der Neuroleptika bei Ihrer Oma. Fehlt es dem Heimpersonal nicht vor allem an Wissen?

Das Phänomen Demenz ist ja inzwischen sehr bekannt. Ich glaube, es ist eine Frage der Zwänge oder der Haltung. Krankenhäuser sind nicht auf demente Patienten eingerichtet, die oft wahnsinnig unruhig sind, nicht bleiben wollen oder sogar randalieren. Dann wird eben „ruhiggestellt“. Meine Großmutter, die immer geredet hat wie ein Wasserfall, sprach kaum noch.

Und saß deswegen im Rollstuhl.

Eine weitere Nebenwirkung dieser Neuroleptika sind „Bewegungsstörungen“. Die Neurologin der Demenz-WG war völlig entsetzt über die Dosis, als sie Omma und ihre Krankenakte zum ersten Mal sah, und fuhr sie radikal herunter. Nach ein paar Wochen war Omma wieder quietschlebendig und konnte wieder am Rollator laufen.

Sind WGs die Lösung für das Problem der Dementenpflege?

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Es ist auch eine Frage der Persönlichkeit: Für den einen ist existenziell, mit einer Pflegekraft im eigenen Häuschen mit dem geliebten Garten zu bleiben. Für den anderen ist ein gut geführtes Heim im angestammten Stadtteil richtig. Aber die WG ist für viele Demenzkranke eine wirklich gute Lösung, weil ein heimeliges Umfeld viel Sicherheit und Geborgenheit vermittelt. Weil Zeit, Kompetenz und auch der Wunsch da sind, auf die BewohnerInnen einzugehen, ihre Stimmungen und Wünsche zu erkennen und darauf einzugehen: Wenn eine Pflegerin erzählt, es gibt heute Seelachsfilet mit Wirsing-Möhrengemüse, weil Helga letzte Woche erzählt hat, dass sie das so gern isst. Oder dass Omma bei der Pflege ungehalten wird, sie ihr das Lieblingslied vorspielt und Omma sich beim gemeinsamen Singen wieder beruhigt, dann ist das schön.

Sie schreiben, dass Ihre Oma alles vergaß, aber beim Kreuzworträtseln noch „Gemahlin des Zeus oder das Wickelgewand indischer Frauen“ wusste. Das tut einem weh.

Ich kann bedrückend manchmal anstrengend sein. Aber ich habe immer versucht zu sehen, was bei Omma noch ging oder geht – und nicht, was nicht mehr ging oder geht. Und das Wichtigste ist doch, wie es dem Menschen selbst geht. Wenn Omma mich zum siebten Mal fragt, wo der längst verstorbene) Oppa ist, und ich antworte siebenmal „auf dem Fußballplatz und er kommt in zwei Stunden nach Hause“, dann ist Omma in diesem Moment zufrieden. Das ist die Hauptsache.

Im Buch wird sichtbar, dass sie Schwächen Ihrer Omma mit viel Liebe begegneten. Stießen Sie an Grenzen?

Nicht oft, aber manchmal. Wenn sie anderen gegenüber ungerecht oder gemein wurde. Dafür gibt es manchmal keine Lösung.

Sie sagen, man soll bei Demenzkranken jedes „Angebot“ für ein Gespräch annehmen, auch wenn die Realität anders ist. Wie zieht man die Grenze zwischen Nichternstnehmen und Entgegenkommen?

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Ich habe in letzter Zeit öfter mit Angehörigen gesprochen, die genau dieses Problem hatten. Man nimmt den dementen Menschen durchaus ernst, wenn man sich auf seine Sicht der Dinge einlässt. Das ist am Anfang sicher schwer, weil was er sieht und sagt nicht der Realität entspricht. Aber es entspricht seiner Realität. Ich habe dann länger mit den Angehörigen der Frau gesprochen. Sie mussten diesen „Schwenk“ erst noch vollziehen. Und ich bin sicher, dass sie das inzwischen getan haben. Denn, wie gesagt, dem dementen Menschen geht es damit besser. Und den Angehörigen damit letztlich auch.

In der WG Ihrer Oma haben Angehörige Pflichten: Elektrogeräte besorgen, Ausmalen, Einrichtung, Versicherungen abschließen, Weihnachtsdeko, ... . Kann man sich da auf alle verlassen?

Es bedeutet mehr Arbeit als im Heim, wo alles geregelt ist. Irgendjemand muss schnell reagieren, wenn aus der WG der Anruf kommt, dass gerade die Waschmaschine kaputtgegangen ist. Der Vorteil ist: Diese Pflichten existieren, weil wir als Angehörige auch Rechte haben. Wir sind Mieter der Wohnung und Auftraggeber des Pflegedienstes. Wenn er nicht nach unseren Vorstellungen arbeiten würde, könnten wir uns einen anderen suchen. Es gibt aber auch Demenz-WGs, die von Pflegediensten gegründet werden, die gleichzeitig Inhaber der Immobilie sind. Wer als Angehöriger weiß, dass er sich nicht engagieren kann oder will, sollte lieber eine solche „anbieterverantwortete“ WG suchen.

Für die Generation Ihrer Omma galt: „Das Heim war Synonym für Horror“. Die Prognosen zeigen aber, dass wir Massen-Einrichtungen brauchen werden. Wie wird man dem entkommen?

Die realistische Antwort lautet: Gar nicht. Die idealistische Antwort lautet: Indem immer mehr Menschen andere Lösungen einfordern – es muss klar werden, dass wir es bei den zum Teil desaströsen Zuständen in Altenheimen mit einer Notsituation zu tun haben. Und indem sie sich frühzeitig darum kümmern, wie sie selbst später leben möchten. Wir sollten schon jetzt ernsthaft überlegen, welche unserer Wohnungen oder Häuser sich später für eine WG eignen könnten.

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Die Autorin

Chantal Louis, geb. 1969 in Gelsenkirchen, arbeitet als freie Journalistin für Print und Hörfunk (u.a. Zeitschrift Emma und WDR), oft an politischen und gesellschaftspolitischen Themen.

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Nach schlechten Erfahrungen zog Louis’ „OmmaEdeltraut Karczewski mit 83 in die erste WG (Wohngemeinschaft) ihres Lebens. Alle Bewohner sind dement. Louis erzählt berührende, humorvolle und schwierige Momente aus dem WG-Leben, von spontanen Walzern bis zum Sterben im Wohnzimmer. Und warum dieses Konzept für Demenz- kranke richtig ist – inklusive Beteiligung der Angehörigen.
„Ommas Glück. Das Leben meiner Großmutter in ihrer Demenz-WG“, Verlag Kiepenheuer & Witsch , 208 S., 15,50 €

Textproben aus dem Buch

„Wenn man Omma erzählt hätte, dass sie eines Tages in einer WG leben würde, hätte sie mit großer Wahrscheinlichkeit Zeter und Mordio respektive Sodom und Gomorrha geschrien. Wir, meine Mutter und ich, konnten sie nicht mehr fragen. Wir haben es für sie entschieden. Und ich bin ziemlich sicher, dass es eine gute Entscheidung war. Eigentlich sogar eine ausgesprochen gute.“

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„Die originellste von Herrn Köhlers Geschichten ist die von einem ehemaligen Wirt im rustikalen Dortmunder Norden. Der servierte seinen WG-Mitbewohnerinnen und -Mitbewohnern im Wohnzimmer jeden Abend die Getränke. Wenn gegen neun alle schlafen gegangen waren, rief der Exkneipier die Sperrstunde aus. Dann sagte er zum Betreuer: „Hömma, gezz kommt keiner mehr. Wir können ins Bett gehen!“ Und der junge Mann brachte den alten Herrn in sein Zimmer, wo er, zufrieden über sein vollbrachtes Tagwerk, einschlief.“

„Oder so: Es gibt Abendbrot. Ich rolle Omma an einen der Resopaltische im Speiseraum zu den anderen, die rechts und links des langen Heimflures wohnen. Es sind vielleicht 25. Zwei Altenpflegerinnen verteilen Teller mit fertig belegten Broten. Omma bekommt zwei Mortadellabrote. In der Mortadella sind Paprikastückchen. Omma hasst Paprika. Sie isst nicht.

Omma, soll ich fragen, ob du ein anderes Brot kriegen kannst?‘

‚Nee, brauchss nich.‘

‚Aber du magst die Wurst doch nicht. Ich frag, ob du ein Brot mit Leberwurst kriegst.‘

‚Nee, dann schmeißen die dies hier weg. Dat geht doch nich! Man darf kein Essen wegschmeißen. Für ne Scheibe trocken Brot wärn wir früher zu Fuß nach Horst gelaufen.‘

Von unserer Bergmannssiedlung in Gelsenkirchen-Erle bis zum Stadtteil Horst sind es etwa acht Kilometer. Ich versuche dennoch, mich bei einer der eiligen Damen bemerkbar zu machen, die die ersten Teller schon wieder abräumen. Mit nicht unerheblicher Phonstärke gelingt es mir beim zweiten Anlauf, und Omma bekommt ihr Leberwurstbrot.

Omma liebt Leberwurst.

Als ich gehe, frage ich mich, ob sich das hier irgendjemand gemerkt hat. Und vor welchem Problem sie morgen Abend sitzen wird. Einem Joghurtbecher, den sie nicht aufbekommt? Einer Tasse mit Hagebuttentee, die für ihre zittrigen Schlaganfallhände zu schwer ist und die nur halb gefüllt werden dürfte, damit sie das Gewicht bis zum Mund schafft? Für das Tempo, das hier herrscht, ist Omma zu langsam geworden. Und zu leise.“

„Betreuerin Sabrina: ‚Man müsse vor allem ein ganz einfaches, aber entscheidendes Prinzip beherzigen: Wenn ein dementer Mensch etwas behauptet, darfst du niemals sagen: „So ist es nicht!“ Sonst hast du verloren.‘ Natürlich gibt es trotzdem immer wieder Situationen, ‚wo ich auch nicht weiß, wie ich da wieder rauskomme‘. Aber dafür seien sie ja immer zu zweit.“