Von wegen dummes Huhn
Von Hedwig Derka
"Ich habe es zuerst mit Schafen probiert", erinnert sich Thomas Gumpenberger. Weil er als junger Mann die steile Böschung hinter dem Hof nicht pflegen wollte, schaffte er die lebendigen Rasenmäher an: "Doch Schafe sind wirklich dumm." So stieg der gelernte Bäcker auf Hühner um. Und entdeckte dabei die Liebe zum Federvieh. Seit 35 Jahren züchtet der oberösterreichische Obmann des Rassezuchtverbands RÖK/Sparte Geflügel nun Hühner. Die Zwerg-Bielefelder haben es ihm besonders angetan. Im Alltag erweisen sich die bodenständigen Kleintiere als besonders fleißig, überaus sozial, schlau und schön. Das Schimpfwort "Dummes Huhn" würde Gumpenberger nie über die Lippen kommen.
Tatsächlich steckt mehr im walnusskleinen Hühnerhirn als gemeinhin vermutet. Eine aktuelle Metastudie aus den USA kommt zu dem Schluss, dass die domestizierten Nachkommen des Bankiva-Huhns über die gleichen Fähigkeiten verfügen wie die meisten Vögel und Säugetiere. Das beginnt bei einer komplexen Lautsprache, geht über Rechenkünste auf Kleinkindniveau und endet beim Mitgefühl für Artgenossen.
Faszinierend
Die Neurowissenschaftlerin und Tierschützerin Lori Marino attestieren den Thinking Chickens (Denkenden Hühnern) Persönlichkeit, Selbstbewusstsein und Verstand: "Ich will mit meiner Arbeit mehr darüber herausfinden, wer diese faszinierenden Geschöpfe sind" – und was sie für die artgerechte Haltung in der Mensch-Tier-Beziehung brauchen. Vertiefende Forschung sei gefragt.
Dabei sind Wissenschaftler bereits vor mehr als 90 Jahren auf das Huhn gekommen. Anfang der 1920er-Jahre entdeckte ein norwegischer Biologe die Hackordnung in der Hühnerschar: Dominante Hennen setzen ihren Führungsanspruch durch, indem sie Konkurrentinnen mit schmerzhaften Schnabelhieben zurechtweisen. Heute weiß man, dass die Hierarchie auf den Stallstangen durchaus flach sein kann.
Nachdem die Frage der Rangordnung fürs Erste geklärt schien, rückten das Gackern, Gackeln, Krähen und Kollern ins Interesse. Mitte des vorigen Jahrhunderts gelang es amerikanischen Wissenschaftlern, 24 Laute herauszuhören. Mittlerweile ist bekannt, dass Hennen und Hähne über ein komplexes Kommunikationssystem verfügen. Mit Körper- und Lautsprache tauschen sie Informationen über Futterquellen und Fressfeinde aus und tricksen gezielt die geflügelten Chefs am Hof aus. Sprachkompetenz: Römisch eins.
Und wie steht es mit der Mathematik? Italienische Neuropsychologen bewiesen 2005, dass bereits Küken Zahlen unterscheiden und geometrische Objekte erkennen können. Die frisch geschlüpften Tiere sind in der Lage, kleine von großen Mengen zu unterscheiden. Später zählten sie gelbe Plastikeier von links nach rechts. Neuere Forschungen weisen nach, dass Hühner Probleme logisch lösen können, genau so wie Aufgaben unter veränderten Versuchsbedingungen.
Zuerst denken
"Hühner verfügen über ein gewisses Maß an Selbstkontrolle", ist Dr. Marino überzeugt. Die flatternden Wesen schaffen es, für besseres Futter den Schnabel zu halten und nicht gleich gierig loszupicken. Auch ihre Position in der Hackordnung ist ihnen klar – beides sind Indizien für ein Bewusstsein über das eigene Sein.
Dem nicht genug, legen die wilden Hühner auch noch Emotionen an den Tag. Englische Forscher demonstrierten 2011, dass sich Glucken von der Unruhe ihrer Küken anstecken lassen. Und mit beruhigendem Zureden reagieren. Die Mütter entwickelten den gleichen Stress, den ein harmloser Windstoß bei ihrer Brut auslöste, obwohl sie weder den Luftzug spürten, noch reale Bedrohung witterte. Hennen können dem Experiment zufolge den Standpunkt anderer einnehmen – eine Fähigkeit, die im Tierreich vor allem von Primaten und Raben bekannt ist.
"Hühner haben unterschiedliche Persönlichkeiten, so wie alle Tiere, die kognitiv, emotional und im Verhalten komplexe Individuen sind", schließt Lori Marino. Auch Züchter Thomas Gumpenberger vermutet, dass sich seine 70 Schützlinge im Wesen voneinander unterscheiden: "Ich habe derzeit einen Hahn dabei, der schaut gut aus, aber er ist nicht so freundlich zu mir."
... Geflügel zu den ältesten Nutztieren der Menschen zählt? Das Haushuhn wurde vor ca. 5000 Jahren in Südostasien aus dem wilden Bankiva-Huhn gezüchtet. Die roten Kammhühner leben heute noch dort.
...die domestizierten Vögel vermutlich über die Seidenstraße nach Afrika und Europa gebracht wurden?
... die Ägypter um 1400 vor Chr. Hühner mehr als Kulttiere denn als Eier-/Fleischlieferanten schätzten? Hähne priesen mit ihrem frühen Krähen demnach den Sonnengott Ra.
... die Hühnerhaltung in Europa um 700 vor Christus begann? Verbreitet wurden die Haushühner vor allem von den Römern, die auch neue Rassen züchteten.
... heute das Weiße Leghorn zu den am meisten verbreiteten Rassen gehört? Der Hahn wiegt etwa 2,4 Kilogramm, die Henne bis zu 2 kg. Sie legt pro Jahr etwa 240 weiße Eier à 60 Gramm.
... es derzeit über 200 Haushuhn-Rassen gibt? Sie werden nach Leistungsmerkmalen eingeteilt: Legehennen, Masthühner und Zierrassen – von Altenglisches Fasanenhuhn bis Yokohama.
... es in Österreich etwa 6,5 Millionen Legehennenplätze gibt und 540 Masthühner-Betriebe? Der durchschnittliche tägliche Weltbestand wird auf mehr als 20 Milliarden Tiere geschätzt.