Historiker: Arzt Asperger spielte Rolle in Nazi-Euthanasieprogramm
Die Rolle des Wiener Kinderarztes und Autismus-Pioniers Hans Asperger (1906-1980) in der NS-Zeit erscheint angesichts einer Studie des Medizin-Historikers Herwig Czech in neuem Licht. Laut einer im Fachblatt "Molecular Autism" erschienenen Arbeit hat der Namensgeber des "Asperger-Syndroms" - einer Form des Autismus - aktiv mit dem NS-Euthanasieprogramm am Wiener Spiegelgrund kooperiert.
"Mit dem Nazi-Regime arrangiert"
Im Gegensatz zu der vorherrschenden Lesart der Vita Aspergers, der oftmals als aktiver Gegner der Nazis bezeichnet oder dem zumindest Distanz zum Regime attestiert wird, hat sich der Arzt und Wissenschafter sehr wohl "mit dem Nazi-Regime arrangiert", heißt es in Czechs Arbeit. Obwohl kein Mitglied der NSDAP selbst, sei er in Organisationen in deren Umfeld, wie der Deutschen Arbeitsfront, der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt und dem Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund engagiert gewesen. Seine Loyalität habe ihm auch Karriereoptionen eingebracht.
Archivmaterial durchforstet
Die Analyse fußt auf bisher nicht aufgearbeitetem Archivmaterial, darunter Aspergers persönliche Dokumente oder Patientenakten sowie Publikationen aus der Zeit. Aus den kritischen Jahren von 1938 bis 1944 standen Informationen zu mehr als 1.000 Mädchen und Buben aus den Einrichtungen zur Verfügung, wo Asperger tätig war.
Czech, der sich an der Medizinischen Universität Wien mit Medizingeschichte beschäftigt, beschreibt in seiner Studie die Fälle zweier Patientinnen im Alter von drei und fünf Jahren, bei denen Asperger eine Einweisung in die Euthanasieanstalt "Am Spiegelgrund" in Wien-Penzing in die Wege leitete. Dort fielen zwischen 1940 und 1945 rund 800 Kinder den Verbrechen der Nazis zum Opfer. Insgesamt wurden in der Anstalt Steinhof, dem heutigen Otto-Wagner-Spital, rund 7.500 Patienten von den Nazis ermordet. Asperger sei in einer Position gewesen, "in der ihm die Wahrheit über die dortigen Vorgänge bewusst gewesen sein musste", schreibt Czech.
Ambivalentes Bild
Der Medizin-Historiker zeichnet ein ambivalentes Bild des Kinderarztes: Aspergers Credo sei es zwar gewesen, Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen die bestmögliche Hilfe zukommen zu lassen, um ihr Potenzial zu entwickeln. Was allerdings mit Menschen passieren sollte, die gewissermaßen keine Aussicht auf Verbesserung ihres Zustandes hatten, sei von Asperger jedoch nie thematisiert worden. Asperger habe darüber hinaus Maßnahmen zur "Rassenhygiene" wie etwa Zwangssterilisationen öffentlich legitimiert. Und er habe seine Patienten in vielen Fällen in sehr rauem Ton beschrieben, was der Auffassung widerspreche, dass er ihm anvertraute Kinder durch beschönigende Diagnosen zu schützen versuchte.
Asperger war 1942 auch Teil einer Kommission, die "unheilbare Fälle" unter mehr als 200 Patienten eines Kinderheims für geistig behinderte Kinder in Maria Gugging (NÖ) diagnostizieren sollte. 35 von der Kommission so bezeichnete Kinder starben später in der Euthanasiereinrichtung "Am Spiegelgrund".
Im Lichte der neuen Erkenntnisse müsse die Rolle dieses "Pioniers des Autismusforschung" deutlich problematischer gesehen werden, so Czech. Bei der Verwendung des Begriffes Asperger-Syndrom sollte für den Historiker in Zukunft auch der Kontext der Entstehung der Bezeichnung in der Nazi-Zeit stärker mitbedacht werden.
Asperger-Syndrom
Unter dem Asperger-Syndrom wird eine Kontakt- und Kommunikationsstörung verstanden, die zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen gerechnet wird. Betroffene haben Schwierigkeiten bei der sozialen Interaktion und Kommunikation. Es fällt ihnen in der Regel schwer, soziale Signale richtig zu deuten und sich entsprechend zu verhalten. In Spezialgebieten können sie aber zum Teil überdurchschnittlich begabt sein. Asperger veröffentlichte seine heute als Erstbeschreibung des Syndroms geltende Arbeit im Jahr 1944. Der Begriff Asperger-Syndrom setzte sich ab den 1980er-Jahren durch.