Zu große Versorgungslücken für Neurologie-Patienten in Österreich
Mit 38 sogenannten "Stroke Units" zur Akutbehandlung von Schlaganfallpatienten liegt Österreich im internationalen Spitzenfeld. Doch abgesehen davon sind mehr als eine Million Österreicher mit neurologischen Erkrankungen von erheblichen Versorgungsdefiziten betroffen: Zu wenige Kassen-Neurologen und viel zu wenige Spitalskapazitäten, heißt es jetzt im aktuellen Österreichischen Neurologie-Report 2022.
Eine Million Österreicher betroffen
Der Bericht wurde von der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie (ÖGN) veröffentlicht. Neurologische Erkrankungen gehören demnach zu den häufigsten schweren Leiden. Rund eine Million Österreicher sind allein von wiederkehrenden Migräneattacken betroffen. Pro Jahr erleiden rund 26.000 Menschen einen potenziell lebensgefährlichen bzw. sehr oft mit Langzeitschäden verbundenen Schlaganfall.
Alzheimer/Demenz (150.000 Betroffene), Morbus Parkinson (rund 20.000 Patienten), Epilepsie (rund 80.000 Betroffene) und die Multiple Sklerose (rund 14.000 Patienten) sind weitere häufige neurologische Probleme.
"Betrachtet man Erkrankungen nach der nachfolgenden Behinderung, dann stehen neurologische Erkrankungen an erster Stelle. Sie sind der Haupttreiber für krankheitsbedingte Behinderung!", heißt es in dem Report mit einem Vorwort des ÖGN-Präsidenten Thomas Berger (MedUni Wien/AKH) und dessen gewählten Nachfolger Christian Enzinger (MedUni Graz).
In der EU-28 wurde 2017 berechnet, dass rund 60 Prozent der Bevölkerung neurologische Erkrankungen bzw. Symptome aufweisen. In jenem Jahr wurden in der EU (noch inklusive Großbritannien) 74,5 Millionen Erstdiagnosen auf neurologische Störungen gestellt. Die Krankheiten waren für 1,12 Millionen Todesfälle verantwortlich.
Andere Länger geben viel mehr aus
"Allein in Österreich schlagen die Erkrankungen des Gehirns (...) mit 16 Milliarden Euro im Jahr 2010 zu Buche; die Per-Capita-Kosten in Österreich lagen damit bei 1.910 Euro", stellt der Report fest. Für die gesamte EU-27 plus Schweiz, Island und Norwegen wurden in der gleichen Untersuchung jährliche Kosten von rund 800 Milliarden Euro errechnet. Die Kosten infolge von Herz-Kreislauf-Erkrankungen dürften hingegen nur rund ein Drittel davon betragen. Das Problem: Die meisten der oft chronischen neurologischen Erkrankungen werden mit steigender Lebenserwartung immer häufiger.
"Erkrankungen des Gehirns müssen daher als eine der größten gesundheitlichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gelten. Insbesondere in den Industrienationen habe sie alle anderen gesundheitlichen Probleme bereits überrundet", stellen die Autoren des Neurologie-Reports 2022 fest.
Mängel in Österreich
Diesen Problemen stehen in Österreich offenbar erhebliche Mängel im Gesundheitssystem gegenüber. Von den Ende 2020 registrierten 1.304 Neurologen in Österreich waren 976 angestellt, 587 hatten (teilweise neben der Anstellung) eine Ordination, 38 waren reine Wohnsitzärzte. Es mangelt aber an Kassenstellen. Der Report: "Zu beachten ist die relativ geringe Zahl an Kassenärzten. Von allen in Summe 578 Neurologen mit Ordination sind (...) 337 ausschließlich als niedergelassene Ärzte tätig. Unter diesen waren im Jahr 2020 nur 131 Vertragsärzte für alle Kassen (ÖGK, BVAEB, SVS). Das bedeutet, dass 70 Prozent aller niedergelassenen Neurologen als Privat- oder Wahlärzte praktizieren."
Zu wenige Kassenärzte
So kommen auf einen Neurologen mit allen Kassenverträgen in Kärnten (2020) 112.258 Einwohner, in Niederösterreich sind es im zweitschlechtesten Bundesland in dieser Hinsicht 80.204 Einwohner pro Kassen-Neurologen. Die Steiermark (77.900 von einem Kassen-Neurologen zu versorgende Menschen), das Burgenland (73.609 Einwohner pro niedergelassenem Neurologen mit allen Kassenverträgen), Oberösterreich (70.966) und Salzburg (69.801) folgen. In Wien kommen auf einen Neurologen mit allen Kassen 57.914 Einwohner, in Tirol 50.509 Menschen und in Vorarlberg 49.642.
"Es ist daher bei einer derart niedrigen Dichte an Kassenärzten davon auszugehen, dass die Wahlärzte genauso wie die Spitalsambulanzen versorgungsrelevant sind", heißt es in dem Report. Für die Betroffenen heißt das, für den Arztbesuch vorweg zu bezahlen bzw. das Aufsuchen von Spitalsambulanzen.
Das zweite Defizit betrifft die Kapazitäten von neurologischen Abteilungen in den Spitälern. Ein Großteil der Patienten mit neurologischen Erkrankungen kommt offenbar nie auf eine solche Fachabteilung. "Noch immer gibt es in Österreich zu wenig Kapazitäten im stationären Bereich, um alle Patienten mit neurologischen Erkrankungen auch tatsächlich auf neurologischen Abteilungen behandeln zu können", stellen die Autoren des Reports fest.
Die Daten dazu: Im Zeitraum 2016 bis 2021 erfolgten in Österreich nur 43,3 Prozent der Entlassungen von Patienten mit neurologischen Diagnosen aus einem Krankenhaus von einer neurologischen Abteilung. 17,5 Prozent der Patienten wurden aus Abteilungen für Innere Medizin, 39,27 Prozent aus anderen Abteilungen entlassen.
Der Bericht führt dazu an: "So wurden von einer Gesamtzahl von jährlich durchschnittlich 133.000 Entlassungen nach stationären Aufenthalten mit einer neurologischen Hauptdiagnose im Durchschnitt 55.000 bis 60.000 Personen auf neurologischen Abteilungen versorgt. Der Rest - mehr als die Hälfte der Patienten mit einer neurologischen Hauptdiagnose - mussten auf nicht neurologischen Abteilungen betreut werden (...). Daraus lässt sich ableiten, dass ein wesentlich höherer Bedarf an neurologischen Versorgungsstrukturen besteht als derzeit verfügbar ist."