Was das Toxische Schocksyndrom mit Covid-19 bei Kindern zu tun hat
Hautausschlag, Bindehautentzündung, niedriger Blutdruck, Durchfall oder Erbrechen - als Anfang 2020 die ersten Anzeichen des Multisystem-Inflammationssyndroms (MIS-C) bei Kindern auftraten, vermuteten die Ärzte, dass es sich um eine entzündliche Erkrankung namens Kawasaki-Krankheit handelte.
Heute glauben die meisten Experten, dass es eine eigenständige Erkrankung ist, die Kinder im Durchschnittsalter von 8 Jahren betrifft. In den USA haben während der Pandemie jedenfalls mehr als 4.000 Kinder MIS-C entwickelt. Jetzt glaubt eine Handvoll Wissenschafter Hinweise gefunden zu haben, was MIS-C antreibt: Die Krankheit könnte etwas mit dem toxische Schocksyndrom zu tun haben, das häufig mit dem Gebrauch von Tampons in Verbindung gebracht wird, berichtet die US-Zeitschrift The Atlantic.
Seit den 1970ern
Erstmals trat das toxische Schocksyndrom in den späten 1970er Jahren auf und Ärzte erkannten bald, dass die Krankheit durch eine Ansammlung von Toxinen bestimmter Stämme von Staphylococcus- oder Streptococcus-Bakterien unter anderem in Tampons verursacht wurde. 1989 erhielten die Toxine, die das Immunsystem zum Amoklauf veranlassten, den Namen „Superantigene“.
Der Arzt Moshe Arditi aus Los Angeles, spezialisiert auf Infektionskrankheiten bei Kindern, beschäftigt sich schon seit Jahren mit der Kawasaki-Krankheit. Als vergangenes Jahr abe erste Fälle von MIS-C beschrieben wurden, vermutete er, dass sie mehr mit dem toxischen Schocksyndrom gemeinsam haben. Also wandte sich Arditi an die Computerbiologin Ivet Bahar von der University of Pittsburgh und andere Wissenschaftler, um der Sache auf den Grund zu gehen.
Superantigen-Toxin
Und siehe da: Bahars Labor fand eine Ähnlichkeit zwischen dem SARS-CoV-2-Spike-Protein, das es dem Pandemievirus ermöglicht, menschliche Zellen zu infizieren, und dem Superantigen-Toxin von Staphylococcus. Die Ergebnisse erschienen im September in den Proceedings of the National Academy of Sciences.
Das reichte den Wissenschaftern aber nicht: Sie sammelten weitere Beweise, die diese Idee unterstützen. Im Frühjahr berichteten Arditi, Bahar und andere Kollegen, dass Kinder mit MIS-C, wie Menschen mit toxischem Schocksyndrom, eine erhöhte Anzahl von T-Zellen mit einem Rezeptor haben, der an Superantigene bindet. Etwa zur gleichen Zeit kamen Wissenschaftler in Frankreich zu einem ähnlichen Ergebnis und verglichen das ungewöhnliche T-Zell-Muster bei MIS-C mit dem des toxischen Schocksyndroms.
Dunkelziffer?
Wenn es stimmt, dass ein Protein aus dem Virus, das Covid-19 verursacht, ein Superantigen ist, dann könnte man erwarten, dass so etwas wie ein toxisches Schocksyndrom bei einem größeren Teil der Infizierten auftritt, und nicht nur bei Kindern. Tatsächlich gibt es eine erwachsene Version von MIS-C, bekannt als MIS-A (die Häufigkeit dieser Erkrankung ist jedoch nicht bekannt). Es ist auch möglich, dass Long-Covid bei Erwachsenen, wie auch andere vermutete Autoimmunmerkmale der Krankheit, mit Superantigenen zusammenhängt, sagt Michel Goldman, ein Immunologe an der französischsprachigen Freien Universität Brüssel.
Gegenstimmen
Allerdings folgen keineswegs alle MIS-C-Forscher der neuen Entzündungssyndrom-Erklärung: „Ich glaube nicht, dass es direkt von SARS-CoV-2 angetrieben wird“, sagt Carrie Lucas, Immunologin an der Yale University, die die Kinderkrankheit ebenfalls erforscht. Denn das toxische Schocksyndrom trete in der Regel innerhalb weniger Tage nach einer bakteriellen Infektion auf, während sich MIS-C oft erst mehrere Wochen, nachdem sich ein Kind mit dem Coronavirus infiziert hat, manifestiert, argumentiert sie.