Wissen/Gesundheit

Pflegende Angehörige: „Sie ist für mich eine Perle“

Ein letztes Mal noch fasst sie ihren Mann an beiden Armen. Mit vereinten Kräften gelingt es, ihn im Bett aufzurichten. Morgen beginnt für beide ein neuer Abschnitt im Leben. Da ziehen Margarethe Denner und ihr Mann Manfred von ihrer Gemeindewohnung in Wien-Atzgersdorf in ein städtisches Senioren-Wohnhaus.

Die Wienerin Margarethe Denner ist eine von 950.000 Menschen, die in Österreich einen Angehörigen pflegen. „Wir sind seit 63 Jahren verheiratet“, eröffnet sie nach der täglichen Morgentoilette. „Und seit 38 Jahren pflege ich ihn, so gut ich eben kann.“

Ihr Mann hat als Beamter im Post- und Telegraphenamt viele Leitungen in Wien und Umgebung gelegt, und er hat auch mit viel Einfühlungsvermögen Lehrlinge ausgebildet. Bis ihn eine seltene Krankheit ereilt hat. Manfred Denner tippt jetzt drei Buchstaben in sein Tablet: „ALS.“ Und dann: „Daran ist auch der Physiker Stephen Hawking erkrankt.“

„Pflegerin mit Herz“

„Die Diagnose war für uns ein großer Schock“, erinnert sich seine Frau. „Der Arzt hat ihm damals fünf Jahre gegeben.“ Doch es sollte ganz anders kommen: Die weniger guten Zeiten in ihrer Ehe haben die Eltern von drei Söhnen noch mehr zusammengeschweißt.

Wenn Manfred Denner seiner Frau etwas mitteilen möchte, hilft ihm dabei für gewöhnlich sein Tablet. Doch oft genug muss er gar nicht mehr tippen, weil sein Alter Ego längst seine Gedanken gelesen hat. Zuletzt konnte er sie dennoch überraschen.

„Meine Frau erfüllt mir jeden Wunsch“, hatte Manfred Denner heimlich an die Jury eines Vereins, der jedes Jahr Österreichs Pfleger und Pflegerinnen mit Herz auszeichnet, gemailt. „Sie betreut mich seelisch und körperlich gut. Sie ist eine Perle.“

Die Überraschung gelang: Tatsächlich wurde die „Perle“ angerufen, und es wurde ihr am Telefon mitgeteilt, dass sie in der Kategorie „Pflegende Angehörige für Wien“ geehrt werden soll. Während sie ihrem Mann das Frühstück richtet, erklärt sie heute mit einem fröhlichen Lächeln: „Natürlich hat mich das sehr gefreut, denn es ist richtig, dass ich ihn immer bestmöglich unterstützt habe.“

Noch wenige Stunden, dann übergibt Margarethe Denner ihre Agenden in die Hände von professionellen Helfern. Und das hat auch mit der Pandemie zu tun: Weil sie nach dem ersten Lockdown kaum mehr die Wohnung verlassen konnte, hat sie Kraft und Koordinationsvermögen verloren. „Die Folge war ein böser Sturz in meinem Wohnzimmer.“ Sie erinnert sich: „Ich war wohl auf dem Sofa eingeschlafen. Als ich meinen Mann hörte, sprang ich sofort auf, doch im nächsten Moment lag ich auf dem Boden.“

Das war vor vier Wochen. Seither vertraut sie auf die Dienste eines Rollators, der ihr das notwendige Gefühl der Sicherheit beim Gehen verleiht, der ihr jedoch nicht erlaubt, zugleich den Rollstuhl ihres Mannes zu schieben.

Eine neuer Tag

Ihrer Übersiedlung in ein Senioren-Wohnhaus sieht die Pensionistin eher positiv entgegen: „Wir werden dort sicher andere Menschen kennenlernen. Wir waren immer gerne unter Leuten. Daher haben wir auch die Geselligkeit zuletzt sehr vermisst.“

Natürlich werden ihr die eigenen vier Wände anfangs fehlen, aber gleichzeitig wird sie Gelegenheit haben, wieder mehr erfüllte Zeit mit ihrem Mann zu verbringen. Das für sie zunehmend beschwerliche Ritual in der Früh wird schon morgen der Vergangenheit angehören.

Und so ist es dann auch. Es scheint am nächsten Tag die Sonne, als Frau Denner mit ihrem Mann den Park vor ihrer neuen Unterkunft inspiziert. Nach 38 Jahren als pflegende Angehörige kann sie sich nun auch wieder mehr um sich selbst kümmern.

Umfrage: Das Betreuen ist für zwei von drei pflegenden Angehörigen körperlich sowie emotional aufwendiger geworden, ihre Lebensqualität sei in der Coronazeit deutlich gesunken. Dies ist das Ergebnis einer aktuellen Umfrage der Volkshilfe Österreich anlässlich des heutigen Internationalen Tages der Pflege.

Eine Befragte beklagte: „Ich bekomme keine Auszeit, muss mich rund um die Uhr um meinen Mann kümmern, weil sich ja wegen Corona niemand mehr zu uns traut.“
Die seit Monaten angekündigte, viel diskutierte Pflegereform könnte auch die pflegenden Angehörigen entlasten. Vor allem im mobilen Bereich sieht man in der Volkshilfe dringenden Handlungsbedarf.

Forderung: Die Pflegereform dürfe durch die Corona-Krise und ihre Folgen nicht weiter aufgeschoben werden, fordert auch Othmar Karas, Präsident beim Hilfswerk Österreich. Karas ist davon überzeugt, dass sich Österreich eine Pflegereform leisten kann: „Zur Sicherstellung der Versorgungssicherheit, aber auch als Motor des Aufbaus.“

Argumentative Rückendeckung bekommt er von Monika Riedel vom Institut für Höhere Studien (IHS). Sie rechnet vor, dass jedem Euro Investition in die Pflege ein Vielfaches an Wertschöpfung gegenübersteht. Das stärke die Wirtschaft. Zudem schaffe die Pflegebranche nachhaltige, saisonunabhängige Jobs im städtischen und ländlichen Raum. „Genau solche Jobs braucht der krisengebeutelte Arbeitsmarkt jetzt.“