Arktis: Das große Schmelzen
Von Bernhard Praschl
Er war schon mehr als fünfzig Mal in der Arktis, die Hälfte davon in der Region Spitzbergen, saß wegen Schlechtwetters oft wochenlang fest und harrte Tage aus, bis er sie vor die Linse bekam: Polarfüchse, Eisbären, Schneehasen, Robben und Walrösser. Eine Ausdauer, die sich bezahlt gemacht hat. Denn so wie diese sich Norbert Rosing, dem renommierten Natur- und Tier-Fotografen aus dem Münsterland zeigen, hat man die Pracht der polaren Fauna noch nie gesehen. Mehr noch. Man kriegt fast Lust, es dem Abenteurer gleichzutun. Rein in die Daunenjacke, dicke Fäustlinge, dazu eine lange Unterhose sowie Superthermosocken, geht schon! Wie bitte? Bei aller Freude über ein paar Minusgrade, der Trip in die Wildnis nördlich des 68. Breitengrades ist alles andere als ein lockerer Spaziergang.
Finger abgefroren
„Ich hab mir die Finger abgefroren, ich habe mir das Gesicht erfroren“, berichtet der 63-jährige Norbert Rosing, ohne zu jammern. Sei’s drum, „das Resultat zählt.“ Und das Resultat sind wirklich beeindruckende Blicke auf „all das, was die Arktis zu bieten hat“. Inklusive Szenen, die imstande sind, das Herz zu wärmen. Seine geradezu intimen Bilder einer Eisbärenmutter mit ihren Jungen gingen um die ganze Welt.
Naturbursch durch und durch
Der Autodidakt des optischen Apparates ist Naturbursch durch und durch. Und damit die Natur möglichst lange erhalten bleibt, ist Norbert Rosing seit fünf Jahren auch Botschafter der UN-Dekade der biologischen Vielfalt, die bis ins Jahr 2020 ausgerufen wurde „Es war nie wichtiger, sich für die natürliche Artenvielfalt einzusetzen“, sagt der Weitgereiste, der seine Augen nie vor den Herausforderungen für die Natur verschlossen hat.
„In Grönland sah ich vor wenigen Monaten Plastikmüll im Meer, das Gleiche vor einem Jahr auf 80 Grad Nord auf Spitzbergen“, klagt er. Und: „Auf Grönland fuhren wir an Inseln vorbei, die noch vor 25 Jahren von dickem Gletschereis bedeckt waren.“
2016: Das wärmste Jahr
Beobachtungen, die durch neues Datenmaterial zusätzliche Brisanz erhalten. Nach Angaben der Wetter- und Ozeanografiebehörde der Vereinigten Staaten („National Oceanic and Atmospheric Administration“, NOAA) mit Sitz in Silver Spring im US-Bundesstaat Maryland war 2016 das wärmste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen 1880. Die Durchschnittstemperatur über Land- und Ozeanflächen sei 0,94 Grad über dem Durchschnittswert des 20. Jahrhunderts gelegen. Damit geht das abgelaufene Jahr als das dritte in Folge, das den globalen Temperaturrekord gebrochen hat, in die Geschichte ein. Die Arktis und ihren Bewohnern sind die besonders Leidtragenden dieser Entwicklung. Denn laut NOAA steigt die Temperatur dort schneller als auf dem Rest des Globus.
Jetzt klingt ein knappes Grad Erwärmung nicht wirklich beängstigend. Für den Laien zumindest. Klimaforscher hingegen erkennen das Alarmsignal. Etwa Gernot Wagner. Der gebürtige Amstettner und Forscher an der Harvard-Universität ist Co-Autor von „Klimaschock“ (Ueberreuter Verlag), das Wissenschaftsbuch des Jahres 2017, und macht die Problematik anschaulich. Er vergleicht die Erwärmung der Erde mit einem planetaren Fieber. 37 Grad ist die Normaltemperatur, bei 38 Grad gehört man ins Bett, bei 40 Grad muss der Arzt verständigt werden.
"Die Auswirkungen sind nirgends so offensichtlich wie nördlich des Polarkreises", heißt es an einer Stelle und: "Das Eis des Arktischen Ozeans hat mittlerweile die Hälfte seiner Fläche und drei Viertel seiner Masse verloren, und das in den vergangenen dreißig Jahren."
Alfred-Wegener-Institut
Auch die Messungen des deutschen
Alfred-Wegener-Instituts geben keinen Anlass, sich zurückzulehnen und Daumen zu drehen. Seit Jahren suchen die Wissenschaftler klimatisch sensible Regionen wie die Arktis auf, um zu erkunden, was rund um den Nordpol wirklich abgeht. Im Winter sind dort Temperaturen von minus 30 Grad Celsius die Regel, also keine Idealbedingungen für ausgedehnten Feldforschung. Geowissenschaftler Thomas Krumpen fand sich mit seinem Team letzten Sommer bei T-Shirt-Wetter ein, um das Eis in der Arktis von der Luft aus genauer in Augenschein zu nehmen.
TIFAX from Esther Horvath on Vimeo.
Mission mit dem "EM-Bird"
„Polarforschung mit dem Flieger ist natürlich Teamarbeit“, sagt er. Gemeinsam mit Flugzeug-Ingenieur Manuel Sellmann hockte er fast am Ende der Welt in einer umgebauten DC-3, um bald nach dem Start einen „Vogel“ aus dem Rumpf der „Polar 6“ auszuklinken und über die Oberfläche schweben zu lassen – den sogenannten „EM-Bird“.
Das torpedoförmige Messgerät (siehe Grafik) tastet dabei die Dicke des Eises ab. Genauer gesagt: „Mittels Elektromagnetik misst der ,EM-Bird’ die Distanz zur Eisunterseite und mittels Laser die Distanz zur Eisoberfläche. Die Differenz ergibt die Eisdicke.“ Forschungsstation Eismeer: Zur Messung der Dicke des Eises werden zusätzlich zum Einsatz von Bojen und Sonden torpedoförmige Messgeräte („EM-Birds“) per Flugzeug und Helikopter über die Meeresoberfläche geleitet. Die elektromagnetischen Messungen ermitteln den Abstand zur Unterseite des Eises. Wichtigste Rolle bei den Expeditionen des Alfred-Wegener-Instituts spielt der Forschungseisbrecher „Polarstern“: Er bringt die Wissenschaftler von Bremerhaven ins arktische Eis
Alarm mit Ansage
Eine aufwendige Methode, aber eine, die im Verein mit den Daten von Schnee- und Temperatursensoren ein klareres Bild von der Lage abgibt. Und die ist nicht gut. „Die Messungen zeigten im vergangenen Sommer in der Region um die Lande- und Startbahn unserer Messflugzeuge eine deutlich reduzierte Eisdecke“, meint Thomas Krumpen. „Und auch die aktuellen Messungen deuten auf ein reduziertes Meereis-Wachstum im Winter als Folge ungewöhnlich hoher Temperaturen sowie einer starken Schmelze im Frühjahr hin.“
Ein Alarm mit Ansage. Bereits im vergangenen Winter, also „im Winter 2015/16 war die Luft über dem Arktischen Ozean in weiten Teilen mehr als sechs Grad Celsius wärmer als im langjährigen Durchschnitt“, konstatiert Meereis-Physiker Lars Kaleschke vom Centrum für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit der Universität Hamburg. Die unweigerliche Folge bestätigt durchaus auch das Empfinden des durchschnittlichen Mitteleuropäers: „Durch die höheren Temperaturen wächst das Eis im Winter weniger stark an.“
Eis sonst doppelt so dick
Ein Bild, das auch die hochauflösenden Flugzeugmessungen für weite Gebiete der Arktis zeigen. „Besonders das neu gebildete, erstjährige Eis war im vergangenen Jahr sehr dünn, kaum dicker als einen Meter“, sagt Polarforscher Christian Haas. Nachsatz: „Normalerweise ist es beinahe doppelt so dick.“
Das Meereis der Arktis gilt als besonders kritisches Element im Klimageschehen und als Frühwarnsystem für die globale Erwärmung. Und der Vergleich macht sicher: In den 1970er- und 1980er-Jahren lagen die sommerlichen Minimumwerte noch bei durchschnittlich rund sieben Millionen Quadratkilometern. Vergangenen September hingegen ist die Fläche des arktischen Meereises auf die Größe von knapp 4,1 Millionen Quadratkilometern abgeschmolzen.
Kaleschke: „Dieser Rückzug ist ein deutlicher Hinweis, dass die globale Erwärmung ungebremst fortschreitet.“ Das bedeutet auch für den Polarwolf und den Eisbären nichts Gutes.
Wie im Norden so im Süden
Was für den Norden gilt, lässt sich ebenso für den Süden sagen. Seit Satellitenaufzeichnungen vorliegen, wird neuerdings auch in der Antarktis weitaus weniger Meereis verzeichnet als im langjährigen Mittel. Daten mit Dramatik. Zwar befindet sich derzeit etwa Thomas Krumpen, der Messkampagnenleiter für die jüngste Arktis-Expedition, im Alfred-Wegener-Stamminstitut in Bremerhaven, das Forschungsschiff „Polarstern“ hingegen bereits auf der nächsten Mission. Ziel ist das Weddell-Meer im Südlichen Ozean. Dort befindet sich mit der Neumayer-Station III Deutschlands südlichster Arbeitsplatz. Die genaue Entfernung zum Schwesterinstitut im Norden beträgt 16.680 Kilometer. Rekordverdächtig. Denn zwei verwandte Forschungsstätten könnten kaum mehr voneinander entfernt sein. Am selben Strang zieht man dennoch.
Austria in der Arktis
Interessant in diesem Zusammenhang: Ziemlich genau 145 Jahre ist es her, dass Österreich bei der Erforschung der Arktis eine Pionierrolle spielte. Julius Payer und Carl Weyprecht hatten sich als erfahrene Alpinisten am 13. Juni 1872 mit dem dreimastigen Barkschoner „Tegetthoff“ von Bremerhaven aus in den hohen Norden aufgemacht, um das nördliche Eismeer näher zu erkunden.
Die österreichisch-ungarische Nordpolarexpedition hatte es gewagt, völlig unbekanntes Terrain zu betreten: Zum damaligen Zeitpunkt war noch kein Europäer weiter als bis zum 82. Breitengrad gekommen. DIe Mission stand unter keinem guten Stern: Schon bald blieb die „Tegetthoff“ im Packeis stecken und wurde gegen Norden getrieben. Nach zwölf Monaten in der Eisdrift wurden Payer, Weyprecht und die 22-köpfige Besatzung an einen Archipel getrieben, der dann nach dem Kaiser „Franz-Josefs-Land“ benannt wurde.
Packender Romanstoff im Packeis
Nach einem weiteren Winter im Eis gelang es der Mannschaft endlich, mit Schlitten und Ruderbooten nach Süden zu marschieren, wo sie dann von zwei russischen Schiffen aufgenommen und gerettet wurden. Das Schicksal der k.u.k.-Expedition war auch die Vorlage für Christoph Ransmayrs im Jahr 1984 erschienenen ersten packenden Romanerfolg, „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“.