Wirtschaft

Wo der wahre Gründerboom stattfindet

Während die Regierung derzeit viel Geld in innovative, möglichst rasch wachsende Technologie-Start-ups pumpt, sehen die Gründer selbst ihre Zukunft offenbar woanders. Fast 40.000 Neugründungen weist die Gründerstatistik der Wirtschaftskammer (WKO) für das Vorjahr aus, um 3,5 Prozent mehr als 2015. Der KURIER blickte hinter die Statistik und fand heraus, in welchen Berufen die meisten neuen Einzelunternehmen entstanden:

24-Stunden-Betreuung Die mit Abstand meisten Gewerbe-Anmeldungen gab es im Vorjahr mit 10.899 (+700) erneut bei den selbstständigen Personenbetreuerinnen in der 24-Stunden-Pflege zu Hause. Weil schon 27 Prozent aller Gründungen auf die Pflegerinnen vornehmlich aus der Slowakei, Rumänien und Bulgarien entfallen, rechnet die WKO sie aus der nationalen Gründerbilanz heraus (siehe Grafik unten). Der Gründerboom ist ungebrochen.

Humanenergetik 1800 neue Firmen entstanden bei den "persönlichen Dienstleistern", allen voran bei den Humanenergetikerinnen (78 Prozent Frauenanteil). Darunter fallen z. B. Klangschalen-, Farben- oder Lichtquellentherapie, Kinesiologie, Bioresonanz oder Magnetfeldanwendungen. 17.000 Mitglieder hat die wachsende Fachgruppe bereits. Die meisten üben das Gewerbe nebenberuflich aus, etwa Ärztinnen.

Direktvertrieb Der individuelle Absatzkanal Direktvertrieb ist als Gegenpol zum anonymen Web wieder in Mode, fast 1700 neue Gewerbescheine gab’s 2016. Großanbieter wie Amway, Tupperware oder Vorwerk suchen quasi ständig Vertriebspartner, häufig im Nebenerwerb.

IT-Dienstleister Einen kleinen Boom gab es mit rund 1000 Neugründungen im Bereich IT-Dienstleistungen. Die WKO schlichtet hier auch Start-ups im Bereich Software-Entwicklung (Internet, Mobilfunk, Social Media) ein. Im Wesentlichen klassische Ein-Personen-Unternehmen. "Die Abgrenzung ist für uns sehr schwer, weil fast im Wochentakt neue Berufe entstehen", sagt Josef Moser, Geschäftsführer der Sparte Information/Consulting in der WKO.

Unternehmensberatung Auch diese, von Männern dominierte, Branche boomt. Viele Berater sind ehemalige technische oder kaufmännische Angestellte, die sich mit ihrem Expertenwissen selbstständig machten (oder auch machen mussten). Auch Pensionisten sind darunter. Der Gründerboom bei Buchhalter(innen) ist abgeflaut.

Werbung/Social Media Der Bereich Marktkommunikation hat sich durch Internet und Social Media stark ausdifferenziert. Viele Firmen lagern Werbe- und PR-Aufträge an selbstständige Spezialisten aus, 1400 Newcomer gab es im Vorjahr.

Klassiker voran

Im gesamten Branchenvergleich liegt die klassische Sparte Gewerbe & Handwerk mit 42 Prozent aller Neugründungen (ohne Betreuerinnen) klar voran, gefolgt vom Handel und der Sparte Information & Consulting. Unzufrieden ist WKO-Chef Christoph Leitl mit dem Gründergeist der Akademiker. Während die Hälfte aller neuen Betriebe von ehemaligen Lehrlingen gegründet werden, kommen nur 5,5 Prozent der Neugründer von der Uni oder FH. "Das Selbstständigkeitsdenken bei Uni-Absolventen ist unterentwickelt. Eltern raten ihren Kindern, sich lieber einen guten Job zu suchen", meint Leitl. An der WU Wien soll daher noch heuer ein eigenes "Gründerzentrum" in Kooperation mit der WKO eröffnet werden. Weitere Unis sollen nach den Wünschen Leitls schon bald folgen.

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Der österreichische Gründer-Mikrokosmos ist letztlich nicht, wie Politiker ihn gern herbeireden und Medien ihn gern herbeischreiben. Die heimische Szene in Fakten sieht nämlich so aus: von den 40.000 neuen Unternehmen sind nur 1000 Start-ups (nach landläufiger Definition). Die überwältigende Mehrheit der Gründungen sind ewige Klassiker – aus den Bereichen Dienstleistung, Direktvertrieb und Beratung; aus Gewerbe, Handwerk, Handel.

Aufmerksamkeit und gesonderte Förderungen kriegen diese Klassiker nicht. Auch keine Millionen-Shows, in denen sie um Geld rittern, keine Pitching-Reisen zu reichen Investoren, keine Kanzler-Bekümmerung. Sie gründen und wirtschaften ohne viel Trara, völlig abseits des Scheinwerferlichts. Aber oft mit mehr Sein als Schein.

Sandra Baierl